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Peter sah sich hilflos um. Ein nacktes Mädchen ist an sich schon ein etwas ausgefallener Morgenanfang. Ein weinendes nacktes Mädchen aber ist ein Superlativ davon. Er war rückhaltlos dazu bereit, mit Coucou einer Meinung zu sein, daß Heinz der größte Filou auf der Welt war. Das enthob ihn aber nicht der Pflicht, etwas Tröstendes zu sagen und sogar zu unternehmen.

Er tat zunächst das, was alle Männer tun, wenn Frauen bitterlich und herzzerreißend weinen: Er nahm sein Taschentuch aus dem Rock, sah schnell nach, ob es noch sauber war, schob dann seinen Zeigefinger unter Coucous Kinn, hob das Köpfchen empor (man sollte Heinz sieben Stunden lang ohrfeigen, solch einen Engel so seelisch zu verletzen!) und trocknete ihr die dicken Kindermurmeln ab.

«Nicht weinen«, sagte er leise. Auch das sagen schuldbewußte Männer immer. Der Tonfall ist sehr variabel. Bei Peter Sacher klang er wie ein sanftes Streicheln und leises Säuseln verführerischer Schmeicheleien.»Das ist dieser Heinz gar nicht wert. Glaub es mir. Er betrachtet die Frau nur als ein Spielzeug. Er ist ein Lustlümmel! Wie kann man vergessen, daß auch ein Mädchen wie du ein Herz und eine empfindsame Seele hat! Auch wenn dir die Francs lieber als alles andere auf der Welt sind. Du bist doch ein Mensch, der ab und zu wirklich zu lieben weiß. Du bist kein Tier, dem man das Fellchen kraulen kann und es dann wegstößt in den Zwinger. Nicht nur Schmerz und Freude empfindest du, sondern auch Einsamkeit,

Scham, Trauer, Verlassenheit und Liebe. Vor allem Liebe, du kleines, blondes Kätzchen. Vielleicht bist du vom Montparnasse oder aus Menilmontant, was geht es mich an? Heute bist du hier, gestern warst du vielleicht in der Rue de Tolbiac, morgen wirst du in einem Zimmer der Avenue de St. Mande schlafen. Und wer heute Henry ist, ist morgen Jacques oder Pierre oder Rene, c'est la vie!«

Das Mädchen blickte auf. Peter kam sich etwas dumm vor. Ich habe einen heillosen Schwulst dahergeredet, dachte er. Aber wer sie ansieht, verdammt, der wird blöd, poetisch, kindisch, überschwenglich, schnulzig. Warum sitzt sie auch so demonstrativ nackt im Sessel!

«Qu'est-ce que ma vie?«fragte Coucou mit großen Kulleraugen. Sie konnten so herrlich unschuldig blicken.

«Das alles, worum du jetzt weinst. «Peter richtete ihren weißen Körper auf. Er bemühte sich, dort anzufassen, wo ihn nicht selbst die Versuchung überkommen konnte. Dann zog er seine Jacke aus und hielt sie ihr hin.»S'il vous plait.«

«Merci, Monsieur.«

Coucou sah ihn groß an. Sie verstand es nicht. Männer benahmen sich bisher anders in ihrer Gegenwart. Daß jemand kam und sie bekleiden wollte, weil sie nackt war, ging über ihren Verstand. Es war etwas Neues.

Sie schlüpfte in den Rock, schlug die zu langen Ärmel um, kauerte sich dann mit hochgezogenen Beinen wieder in den Sessel, warf die langen Locken in den Nacken zurück und zog die Rockschöße über ihre bloßen Schenkel zusammen. Dabei sah sie Peter Sacher wie ein gefangenes Tier an. Ein fremder Mann muß immer wie ein Raubtier beobachtet werden. Sie kannte es nicht anders. Männer sind nun eben so.

Peter kratzte sich die Nase. Er war verlegen. Halb angezogen wirkte Coucou plötzlich geisteshemmend auf ihn.

«Un cafe?«fragte er mit rauher Stimme.

«Oui! Tres bien!«

Sie nickte und lächelte. Ihre kleinen, grellrot lackierten Zehen spiel-ten mit den Saffianpantoffeln und wippten auf und nieder. Im Radio spielte eine Blaskapelle einen Bauernmarsch. Coucou schien sehr musikalisch zu sein. Bei jedem Paukenschlag schlugen auch ihre Beine aus und wippten hoch. Es sah sehr kokett aus, von einer raffinierten Kindlichkeit.

Peter Sacher erinnerte sich an seinen Vorsatz, hart zu bleiben. Er räumte den Tisch ab, ging in die Küche, stellte den Heißwasserkocher an und suchte in einigen Blechbüchsen nach Kaffee. In der Büchse, auf der Zimt stand, war Kaffee. Er war bereits gemahlen. Peter blickte schnell zurück ins Zimmer. Die Küchentür verdeckte ihn vor Coucous Blicken. Da nahm er die halbgeleerte Flasche Gin, setzte sie an den Mund und trank einen langen Schluck. Brennend rann der scharfe Schnaps in ihn hinein und brannte die letzten verwirrenden Gedanken weg.

Aufatmend setzte Peter Sacher die Flasche ab. Das war für den ersten Schreck, dachte er. Wenn's so weitergeht, kehre ich mit einem Delirium nach Düsseldorf zurück.

Er stellte sich an den elektrischen Wasserkocher und sah zu, wie in dem gläsernen Behälter das Wasser zu sprudeln begann. Er schreckte erst auf, als hinter ihm ein Tapsen von nackten Füßen das leise Summen des Kochers unterbrach. Er schielte zur Seite. Coucou war in die Küche gekommen.

Sie hatte die Jacke wieder ausgezogen und ihr dünnes, durchsichtiges Nachthemdchen wieder übergestreift. Auf nackten Sohlen schwebte sie herum, lächelte Peter mit glänzenden Augen an, nahm Tassen, Untertassen und Teller aus dem Küchenschrank, stellte alles auf ein Tablett und trippelte wieder zurück ins Zimmer.

Von da ab nahm sie eine rege Wanderung auf. Zuckerdose, Milchkännchen, Kaffeelöffel, Kaffeekanne wurden einzeln weggetragen. Bei jedem Wiedererscheinen in der Küche hatte sie eine Wandlung vorgenommen. Erst war die rote Schleife wieder im Haar… dann trug sie lange, glitzernde Ohrringe (Ohrringe zu solch einem Nachthemd, überhaupt zum Nachthemd! Peter schüttelte innerlich den Kopf), bei der Kaffeekanne hatte sie hellblaue Pumps an, mit einem langen, dünnen Absatz, der über die Fliesen klapperte. Ihr Körper war dadurch gestreckt, die langen Schenkel tänzelten vor Peters Augen; er bemühte sich, nicht hinzusehen, aber irgendwie war in seinem Inneren ein Riß zwischen Wollen und Können.

Als Coucou wieder im Wohnzimmer war, nahm Peter noch einmal einen schnellen, aber herzhaften Schluck aus der Ginflasche. Warum hat Heinz sie allein gelassen und ist nach Arles geflüchtet (wenn das überhaupt wahr ist!)? Coucou scheint keine Gelegenheitsdame zu sein. Sie kennt sich zu gut im Haushalt aus. Sie benimmt sich wie zu Hause. Er stellte die Flasche zurück und sah das abgerissene Strumpfband auf dem Fensterbrett liegen. Eigentlich, sinnierte Peter, reißt man alten Freundinnen keine Strumpfbänder mehr ab. Aber wer kennt sich bei Heinz v. Kletow aus? Und wer weiß, zu welchen Exzessen Coucou neigt, wenn es überhaupt Cou-cou ist. So sicher ist das ja noch gar nicht.

Er nahm Puderdose, Lippenstift und abgerissenes Strumpfband und ging hinüber ins Wohnzimmer. Coucou, wenn sie's war, hatte den Tisch gedeckt. Die Tassen standen da, die Teller, die Bestecke. Aus Papierservietten hatte sie kleine Blüten geformt. Sie selbst saß kerzengerade, mit durchgedrücktem Kreuz auf der Couch. Das Nachthemd spannte sich wieder. Es war ein Luxus-Morgenkaffee.

Peter legte die gefundenen Gegenstände vor sie hin. Coucou, wenn sie's war, sah mit einem kurzen Blick über sie hinweg, dann lächelte sie wie verzeihend, ergriff mit einer wilden Bewegung das abgerissene Strumpfband und warf es in eine Ecke des Zimmers. Darauf klappte sie die Puderdose auf, betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, stieß einen spitzen, piepsenden Schrei aus und fuhr sich schnell mit der Puderquaste über das verweinte und verwischte Gesicht.

Peter sah ihr interessiert zu. Junggesellenerinnerungen tauchten in ihm auf. Er mußte lächeln, und dieses Lächeln war es, was Coucou, wenn sie's war, ermutigte, mit den Augen zwinkernd auf den Platz neben sich zu zeigen.

«S'il vous plait.«

Peter nickte zu ihr hinab. Er zeigte auf sie und fragte:

«Coucou?«

«Moi?«

Ihre weißen, kleinen Zähne waren süß. Das Gebiß eines Mäuschens, dachte Peter.

«Ah! Oui! Je suis Coucou.«

«Et moi«, Peter suchte nach den Vokabeln. Man muß diesem schmählich verlassenen und sichtlich aufgelösten Geschöpf sagen, daß man Heinz' Freund ist, aber seine Handlungsweise zutiefst bedauert und ganz und gar auf der Seite der jungen Dame steht.»Moi, je suis Pierre!«Er zeigte auf sich. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Sie mußte ihn verstehen.»Et je suis un ami du Henry.«