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«Oh, son ami?«Sie sprang plötzlich auf und ergriff seine Hand. Es ging so schnell, daß ein Rückzug unmöglich war. Außerdem gibt es eine entschuldbare Schrecksekunde und einen langen Verzögerungsweg, wenn ein dreiviertel nackter Körper auf einen zufliegt. Nur als Coucou Peters Hand küssen wollte, zog er sie schnell zurück.

«Nicht«, sagte er heiser.»Bitte, nein!«

«Oh!«sagte Coucou. Sie hockte auf der Sessellehne, warf plötzlich die Arme um Peters Hals, preßte ihre heißen, kleinen Hände gegen seine Wangen und küßte ihn auf den Mund. Ihre Lippen zitterten.

Sicherlich hat sie Fieber, dachte Peter als moralische Rechtfertigung gegenüber seinem Gewissen. Deshalb hielt er auch still und ärgerte sich nur maßlos, daß sein Herz wie eine Kesselpauke dröhnte.

Als Coucou seinen Kopf wieder losließ, trat er einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Also doch Himbeer, dachte er. Er schmeckt so, wie er riecht, der Lippenstift. Er schielte zu Coucou hinüber und suchte mit den Blicken ihre Lippen. Sie waren voll und sinnlich, fast zu voll für das schmale Gesicht unter den goldenen Haaren.

Etwas Fremdes, Eigenartiges drückte plötzlich in Peters Brust. Es war ihm, als sei die Zeit zurückgedreht, als sei er wieder ein flotter

Zwanziger. Es kribbelte in seinen Händen, und unter der Kopfhaut juckte es. Nur das Herz war lahm. Es kam bei der Belastung nicht mehr mit und brachte den Kreislauf durcheinander.

Coucou goß Kaffee ein. Sie zeigte auf Zuckerdose und Milch und nickte fragend. Peter nickte zurück. Da gab sie ihm zwei Stückchen Zucker und etwas Milch in den Kaffee.

Das ist bestimmt das Quantum von Heinz, dachte Peter. Und er ärgerte sich plötzlich darüber, daß Heinz sein Vorgänger war. Es war fast beleidigend.

Stumm saßen sie sich gegenüber und tranken ihren Kaffee. Von der Eglise Sulpice klangen neun helle Schläge.

«Neuve heure.«

Coucou erhob sich schnell. Sie beugte sich noch einmal über Peter, gab ihm einen Kuß, streichelte ihm über das Haar, sie ist elektrisch geladen, dachte er schaudernd dabei. In mir knistert es! Dann ging sie in das Schlafzimmer, wie es schien, ein wenig traurig, und zog hinter sich die Tür zu.

Peter Sacher lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Welch ein Affe bin ich, dachte er. Ich benehme mich wie aus Holz geschnitzt. Wirken sich sieben vergangene Jahre so katastrophal im Altern aus? Zugegeben, Sabine hätte es nicht verdient, wenn ich mich anders benommen hätte. Aber immerhin haben sieben vergangene Jahre sie nicht abgehalten, ein Doppelzimmer an der See zu mieten. Teufel auch, man ist verreist, um sich zu prüfen! Wer kann es einem verübeln, ein schlechter Lebensschüler zu sein?

Er wollte aufspringen, um ins Schlafzimmer zu gehen, und verpaßte Gelegenheiten nachzuholen, als Coucou angezogen ihm entgegenkam. Sie war frisiert und geschminkt, hatte ein helles, großgeblümtes Perlonkleid an und sah frisch und hübsch aus. Jung und raffiniert naiv.

«Adieu, monsieur«, sagte sie leise. Sie ist traurig, durchfuhr es Peter. Natürlich, wer mit solch einem Schluffen wie mir einen solchen Morgenkaffee trinken muß, hat das Recht, bittertraurig zu sein. Er wollte die Arme ausstrecken und Coucou an sich ziehen, aber sie war schon weitergegangen, um ihn herum und sah auf ein Bild, das auf der Anrichte des Zimmers stand. Es stellte Heinz v. Kletow dar, in einem weißen Tennisdreß, mit einem Zahnpasta-ReklameLächeln.

«Et, Henry«, sagte Coucou. Dann stockte sie wieder und machte eine wegwerfende Handbewegung.»Au revoir.«

Sie ging zur Tür, mit gesenktem Kopf. Aber bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal um, nestelte in ihrer Handtasche und holte einen Schlüssel hervor. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie ihn Peter entgegen.

«La clef«, sagte sie traurig.»Pour Henry — «

«Behalte ihn doch!«antwortete Peter leise.»Ich bleibe doch sechs Wochen hier in Paris.«

Sie verstand ihn nicht. Da er sich nicht rührte, um den Schlüssel entgegenzunehmen, legte sie ihn auf einen Stuhl, wandte sich ab und ging. Sie hatte die Tür offengelassen. Peter hörte, wie sie die Flurtür öffnete, sie quietschte etwas (wird gleich geölt, dachte Peter mutig), dann klappte sie wieder ins Schloß. Es war ein Schlag, der deutlich sein Herz traf.

Coucou war gegangen.

Für immer?

Peter Sacher lief zum Fenster und sah durch die Gardine auf die stille Straße. Nur ein paar Handkarren rappelten über die Rue de Sevres.

Coucou kam aus dem Haus. Sie schaute sich um. Sie blickte die Hauswand empor, wandte sich dann schnell ab und trippelte mit eiligen Schritten davon. Niemand beachtete sie. Sie war ein Mädchen wie Hunderttausend in Paris. Sie trug ein buntes Fähnchen, ein knallrotes Mündchen und blanke, wissende Augen.

Coucou, dachte Peter. Sie trägt das Herz von Paris in ihrer kleinen Brust.

Wütend wandte er sich vom Fenster ab. Wenn Männer müde werden, flüchten sie sich in die Sentimentalität! Es ist abscheulich, alt zu werden.

Er trat an den Spiegel in der Diele. Die Betrachtung seines Ichs ermutigte ihn nicht sonderlich. Immerhin rannte er zurück ins Wohnzimmer, nahm das Bild Heinz v. Kletows, er sieht widerlich jung und frisch aus in seinem Tennisdreß, so gemein geladen mit Potenz, dachte Peter neidvoll, trug es in die Küche in den Abfalleimer.

Im Wohnzimmer entdeckte er auf dem Rauchtisch den Zettel Kle-tows.»Wenn Coucou kommt, sei nett zu ihr und tröste sie. Die Kleine ist herzensgut, nur ein bißchen hysterisch.«

Peter Sacher zerknüllte den Zettel und warf ihn in die Ecke zu dem abgerissenen schwarzen Strumpfband.

«Blöder Hund!«sagte er laut. Es war nicht ganz klar, ob er Heinz damit meinte.

Aber dann, nach einigem Zögern, weil er sich viehdumm und kindisch vorkam, bückte er sich, nahm das abgerissene Strumpfband Coucous aus der Ecke und steckte es in das innere Fach seiner Brieftasche.

Ich fahre nach Düsseldorf zurück, dachte er. Ich gehöre nicht nach Paris. Ich ersticke hier am eigenen Dilettantismus.

Die Eglise Sulpice schlug zehnmal. Unter dem Briefschlitz der Flurtür lag eine zusammengefaltete Zeitung. Peter hob sie auf, blätterte die letzte Seite um und las die Ankündigungen der Tagesveranstaltungen.

In der Oper spielte man >La Boheme<, in der Comedie Frangai-se Molieres >Le malade imaginaire<, im Theatre Sarah Bernhard eine Komödie Marcel Pagnols. Die Bars lockten mit Entkleidungsszenen, im Moulin Rouge spielte ein Neger-Tanzorchester.

Es war fad. Alles war so fad!

Am besten ist es, man nimmt sich eine Taxe und läßt sich rund und kreuz und quer durch Paris fahren, dachte Peter. Das ist besser, als mit dem eigenen Wagen durch eine fremde Stadt zu irren. Hinein in den Bois, langsam über die breiten Boulevards und Avenuen. Vielleicht überkommt einen dann das Fluidum, das die Abenteuermüdigkeit aus den Knochen treibt. Und wo ein schönes Mädchen über die Straßen trippelt, wo ein schlankes Bein unter der Mar-kise eines Cafes in der Sonne wippt, da kann man dem Chauffeur auf die Schulter tippen und sagen: Halt! Ich steige aus.

Austern mit Champagner. Eine Flasche Haut Sauterne. Einen Aperitif. Dazu das girrende Lachen eines Mädchens. Das müßte Paris sein.

Peter Sacher steckte die Zeitung in die Jackentasche. Als er den Rock zuknöpfte, merkte er, daß ihm der süßliche Duft von Cou-cous Parfüm entströmte. Er schnupperte an den Revers, an den Ärmeln, die noch umgestülpt waren und an den Schultern.

Coucou, dachte er. Du hast ihn auf der nackten Haut getragen. Hier drückten deine. Hastig streifte er die umgestülpten Ärmel herunter und schob das Kinn vor. Haltung, Peter! Bloß Haltung bewahren!

Aber seine Finger zitterten ein wenig, als sie im Treppenhaus den Schlüssel im Schloß herumdrehten.

Im Treppenhaus traf er auf den alten Concierge.»Bon jour, monsieur«, sagte er und blinzelte dabei frivol mit den Augen. Pariser Hausmeister sind großzügig und weltmännisch.