Über die Gangway schritt Sabine Sacher auf die Insel. Sie hatte sich auf dem Schiff umgezogen. In einem weißen, tief ausgeschnittenen Leinenkleid mit weißen flachen Schuhen, die schwarzen Haare mit einem Seidenband zusammengebunden und aus der Stirn hinausgehoben, so daß sie wie eine Krone um den Kopf lagen, sah sie unternehmungslustig und appetitlich jung aus.
An Land sah sie sich ein wenig hilflos um. Ihre Koffer wurden von einem Steward auf das Pflaster gesetzt, ein Heer von Gepäckträgern machte Jagd auf Kunden. Hotelboys mit Schildern ihrer Hotels wan-derten an der Mole hin und her und sammelten ihre Gäste zu einem Häuflein. Die ersten Bekanntschaften wurden geschlossen. Die Erwartungsfreude machte freudig und redselig.
Von der Pension >Seeadler< war niemand gekommen. Sabine wartete, bis alle Gepäckträger und Boys besetzt waren, dann nahm sie ihre Koffer selbst und schleppte sie zum kleinen Bahnhof der Inselbahn, die bereits zum zweitenmal pfiff und zum Einsteigen aufforderte.
Eine Gruppe Pfadfinder zog mit Lauten und Harmonikas an ihr vorbei. Vor einem der Inselbahnwagen küßte sich ein Ehepaar. Der Ehemann war gerade angekommen. Zwei Kinder, braun wie Mulatten, kamen herbeigelaufen und brüllten» Vati! Vati! Vati!«Überall war Glück und Freude, nur sie war allein.
Bevor Sabine Sacher in die Inselbahn stieg, sah sie zurück zum Schiff. Postwagen und Pferdefuhrwerke waren herangefahren, die Rückladung wurde hineingetragen.
Umkehren, war ihr Gedanke. Mit dem gleichen Schiff zurück zur Küste und von dort nach Düsseldorf. Was sollte sie hier allein unter glücklichen Menschen? Niemand kannte sie, wie ausgestoßen stand sie abseits. Im >Seeadler< würde es nicht anders sein. Sie schielte hinüber zu dem jungen Ehepaar. Er hatte sie untergefaßt. Ihre Augen leuchteten. Wie verliebt sie sind, durchfuhr es Sabine. Und zwei entzückende Kinder haben sie. Wenn Peter hier wäre.
Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken. Er ist in Paris. Er langweilt sich bestimmt nicht. Man muß eben das Abenteuer suchen, wenn es einem nicht entgegenkommt!
«Wo soll'n die Koffer hin?«fragte einer der Gepäckträger. Sabine war der letzte Gast, der noch nicht eingestiegen war. Die kleine Lok pfiff zum drittenmal. Mahnend, dringend.»Wohnen Sie in einem Insulanerhaus oder im Hotel? Wir müssen schnell machen, die Bahn fährt gleich ab.«
«Pension >Seeadler<«, sagte Sabine leise. Wenn ich bloß nicht losheule, dachte sie. Ich bin nahe davor.
«Das ist am Südstrand. Bitte, beeilen. Einsteigen!«
Der Gepäckträger hob die Koffer in den Wagen. Den letzten schob er noch hinein, weil der Zug nach einem kurzen Pfiff anfuhr. Sabine warf dem nachrennenden Träger einen Geldschein zu. Sie wußte nicht, wieviel es war. Als sie in die Tasche griff, war er zwischen ihren Fingern. Der Träger fing den Schein auf. Verblüfft starrte er den Schein an, dann riß er seine Mütze vom Kopf und schwenkte sie grüßend der freigiebigen Dame nach.
Sabine Sacher zwängte sich auf einen schmalen Sitzplatz inmitten schwitzender, fröhlich erzählender, nach Sonnenöl riechender
Menschen. Mißmutig starrte sie hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft der Insel.
Die Wolde-Dünen zogen vorüber, die Spitze des Leuchtturmes schob sich hervor, und dann tauchten inmitten von Strandhafer und saftigen Wiesen, sanften Dünen und goldenem Sand die ersten weißen Häuser auf. Ihre roten Dächer leuchteten in der Sonne. Es war ein fantastisches Farbenspiel, das lustig machte und ferienfreudig.
Vorbei am hohen Kurmittelhaus ratterte das Bähnchen und hielt inmitten des Zentrums. Vor dem nahen Kurtheater stauten sich die Gäste. Die Luxushotels am Strand ließen ihre blanken Fenster blitzen. Es war, als habe man die Insel zur Begrüßung der neuen Gäste geschrubbt und gewienert. Selbst das Meer hatte ein Sonntagskleid an. Es war flach, sonnendurchglitzert und träge.
Sabine Sacher sah dies alles nur mit halbem Verständnis für die Schönheit. Sie stand auf dem Trittbrett des Bähnchens und blickte den Hotelboys entgegen, die wieder an der Endstation standen. Ein kleiner Fischerjunge trabte durch das bunte Gewimmel. Über seinem Kopf trug er mit beiden Händen ein großes Schild. >Seeadler<. Neben ihm trabte ein anderer Junge. Auf seinem weißen Schild an einer Holzlatte leuchtete es: >Seeschwalbe<.
Sabine winkte dem ersten Jungen zu und sprang vom Trittbrett.»Hierher!«rief sie.»Hierher!«
«Zu uns?«fragte der Junge und holte sein Schild ein.»Ihr Name?«
«Sabine Sacher.«
Der Junge zog aus der Hosentasche eine zerknitterte Liste und fuhr mit seinem Zeigefinger die Namenkolonnen hinab. Dann nickte er und steckte das Papier wieder in die Hosentasche.
«Stimmt. «Er lächelte verzeihend zu Sabine.»Ich soll nämlich vorsichtig sein, sagt der Portier. Wir sind für zehn Wochen total ausverkauft.«
Er nahm Sabines Koffer, lud sie auf einen kleinen, flachen Handwagen, spannte sich wie ein Kuli in die Deichsel und rannte vor ihr her, dem Südstrand zu, der irgendwo hinter den großen weißen Steinklötzen der Hotels liegen mußte.
Die Pension >Seeadler< war sehr gut, bürgerliche Küche< versprach ein großes Schild, aber wer die ausgehängte Speisekarte las, mußte sich sagen, daß das deutsche Bürgertum ungemein wohlhabend sein mußte. Der Portier kam aus der Tür, als der moderne Kuli schwitzend, aber fröhlich grinsend hielt. Sogar ein Geschäftsführer im schwarzen Anzug zeigte sich in der Tür und repräsentierte allein schon durch seine Erscheinung und sein Vorhandensein.
Dann stand Sabine Sacher in ihrem Zimmer, das sechs Wochen lang ihre neue Heimat sein sollte. Eine Klause des Nachdenkens, der Sehnsucht nach Peter, der Läuterung und des endgültigen Entschlusses, wie es weitergehen sollte.
Es war ein großes Zimmer mit zwei Betten. Das zweite Bett kam Sabine wie ein Hohn vor, wie eine sechs Wochen lange Qual. Wer 42 Nächte neben einem leeren Bett schlafen muß und es anders haben könnte, braucht starke Nerven, dies durchzustehen. Es war eine Selbstkasteiung.
Ein breites Fenster bildete die Wand zum Meer hin. Bunt karierte Gardinen hingen davor, zugezogen, damit die Hitze nicht in den Raum flutete. Sabine zog sie zurück. Vor ihr breitete sich der weiße Sandstrand aus, bespickt mit Strandkörben und gestreiften Strandzelten.
Sabine drehte sich weg und betrachtete das Zimmer. Ein großer Doppelschrank, doppelte Waschbecken, um einen runden Tisch zwei Sesselchen, das Doppelbett, doppelte Nachttischlampen, doppelte Handtücher, Zahngläser, doppelte Bettvorleger, doppelte Speisekarten für den Abend, alles doppelt.
«Hier werde ich verrückt«, sagte Sabine leise und setzte sich auf das Bett.
Ihr Blick fiel auf einen handgemalten Spruch, der neben der Tür hing. Es war eine Holzscheibe, auf die man geschrieben hatte:
Des Lebens ganze Würze ist, daß du mal froh und lustig bist.
Sie sprang auf, riß die Gardine zurück und stieß die breiten Fensterflügel weit auf. Der warme Seewind blies ins Zimmer und zerzauste ihre Haare. Sie beugte sich hinaus, tief atmend, als ersticke sie in diesem Zimmer, in dem alles doppelt war.
Dort unten ist der Strand, dachte Sabine. Dort springen sie herum, braun, lebenslustig, fern aller Sorgen, ganz Kinder in Gottes Hand. Ihr Lachen übertönt das Brausen des Meeres; die Buntheit ihrer Bälle und Badeanzüge sind wie Tupfen auf einer riesigen Leinwand. Und ich stehe hier am Fenster, starre wie ein Sträfling hinab in das Leben und warte, warte.
Warten? Auf was eigentlich? Auf ein Wunder? Es gibt keine Wunder mehr. Früher war die Liebe ein Wunder, der erste Kuß, das erste große Erleben, das Glück, gemeinsam zu sein. Aber dann kam der Alltag, und in einer siebenjährigen Ehe gibt es keine Wunder mehr. Vielleicht nur noch eins, würde Peter in seinem bitteren Sarkasmus sagen: Das Wunder, daß alles sieben Jahre lang gedauert hat.