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Sabine trat vom Fenster weg und sah zurück ins Zimmer. Das breite Doppelbett erschreckte sie plötzlich. Zu Hause in Düsseldorf hatte jeder sein eigenes Schlafzimmer. Nie hatten sie daran gedacht, daß ein Haus noch so groß und weit sein kann, wenn nur die Ehebetten wenig Platz einnahmen. Vielleicht hatte man alles falsch gemacht, von Anfang an. Nicht Ferien von der Ehe wären nötig gewesen, um die Trägheit aus ihrem Zusammensein zu schütteln, sondern Ferien in der Ehe mußten es sein! Eheferien zu zweit, allein irgendwo in der Einsamkeit, fern aller Telefone und Briefträger, Zeitungen und Radios. Dort hätte sich vielleicht finden lassen, was sie suchten: sich selbst.

Sabine schüttelte den Kopf. Sie band das Seidenband neu um ihre zerzausten Locken. Nicht daran denken. Hier ist Borkum. Und man ist allein mit einem Doppelbett.

Sie packte die Koffer aus und legte sich dann auf die Daunendecke des Bettes, die Arme unter dem Nacken verschränkt. An der weißgetünchten Decke spiegelte sich die Sonne in bizarren, durch das Gardinenmuster aufgerissenen Formen.

Müdigkeit überfiel Sabine. Trauer, Einsamkeit, Schmerz, alles drückte sie nieder.

Aber auch Trotz.

Sie begann zu grübeln.

Es gibt erwiesenermaßen auf der Welt nichts Gefährlicheres als eine grübelnde Frau. Was Helden nicht wagten, was Philosophen nicht erdachten, was selbst Politikern nicht einfiel (gibt es noch eine Steigerung?), das gebiert der Haß im Hirn einer grübelnden Frau.

Zwischen Melancholie und Weltzerstörung schwingt der Pendel des rätselhaften menschlichen Gemütes. Als Agrippina grübelte, starb Claudius wenig später an Gift. Das Grübeln einer Dubarry kostete Ludwig den Kopf.

Männer — laßt eure Frauen nie grübeln!

Sabines Grübelei war allerdings einfacherer Natur und frei von zerstörerischen Elementen. Sie dachte nur an Rache.

Es sollte eine absolut weibliche Rache werden, aufgebaut auf die natürlichen Reize, die Gott dem Weibe schenkte.

Peter in Paris, sie in Borkum. Das gleicht sich aus. Wenn er ein Mädchen küßt, ohne daß ihm das Gewissen schlägt, dann durfte auch sie die Lippen spitzen.

Auch auf dieser Insel wird es Männer geben, die zu gerne einer Sabine Sacher nette Worte ins Ohr und unter die Schläfenhärchen flüstern.

Sie sprang vom Bett hoch und eilte an den Schrank, in den sie gerade ihre Kleider gehängt hatte. Sie zog sich um. In einem Seidenkleid mit großem, blutrotem Klatschmohn auf weißem Grund stand sie dann vor dem Spiegel und drehte sich. Ihre schönen, noch weißen Schultern lagen frei über dem rotbordigen Ausschnitt.

Ich habe eine schöne Haut, dachte sie. Manches zwanzig Jahre jüngere Mädchen würde froh sein, sie zu haben. Es würde gerne ein paar Jahre hergeben für diese glatte, reine Haut.

Sie lachte in den Spiegel. Noch etwas verzerrt, aber ihr Mund war schön. Die Lippen glänzten rot.

Peter muß blind sein, dachte sie gehässig.

Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich in mich verlieben.

Es dämmerte schon, als Sabine Sacher von einem Spaziergang über die Strandpromenade und am Strand zurückkehrte.

Ein Kellner wies ihr ihren Tischplatz an, den sie jetzt sechs Wochen lang behalten würde. Eine Serviettentasche lag bereits auf ihrem Platz. S. Sacher stand darauf. Nicht Frau S. Sacher. Das beruhigte sie. Es war ja möglich, daß ein interessierter Mann schon die Aufschrift gelesen hatte.

Der Tisch stand an einem großen Fenster. Ungehindert ging der Blick über das im Abendrot orangeflimmernde Meer. Als sie sich setzte, warf der Widerschein einen roten Schimmer auch auf ihr Haar.

Sabine schielte zu den anderen Tischen. Sie sah, wie man sie anblickte. Sie war die Neue, die Fremde, die Interessante, die noch vom Geheimnis der Anonymität Umgebene. Ein Herr im mittleren Alter, der in der Ecke saß, bewegte leicht nickend den Kopf. Die erste Annäherung, das erste Zeichen.

Lächelnd senkte Sabine Sacher den Blick. Der Kellner servierte das Gedeck. Im Radio am Büfett spielte ein kleines Streichorchester ein Menuett von Scarlatti.

Das Leben ist doch so einfach, dachte Sabine. Nur unsere dummen Gedanken komplizieren es so.

Um diese Stunde fuhr der letzte Bäderdampfer des Tages im Hafen von Borkum ein. Es war die >Kaiser Wilhelm<, ein altes, aber immer noch tapferes Schiff, das durch die Abendflut schlingerte und keuchend festmachte.

An Deck stand der Italiener Ermano Ferro alias Assessor Bornemeyer. Er schwitzte reichlich und sah sehr zerknittert aus. Das rollende Meer war ihm nicht sympathisch. Um es sympathischer zu finden, hatte er getrunken und gegessen. Das wirkte sich jetzt nachteilig aus. Nicht, daß er seekrank war, aber das Gefühl, über etwas hinwegzufahren, das im Notfälle keine Balken hatte, erzeugte in seinem immer aufVorsicht eingestellten Gemüt unangenehme Schau-er.

Auch die Inselbahn, die auffordernd pfiff, erweckte Mißtrauen in ihm. Sogar die Insel selbst kam ihm feindlich vor. Sie war dunkel, einsam, drückend.

Eingedenk seiner neuen gesellschaftlichen Stellung aber bewahrte er Haltung. Mit hochmütigem Nicken ließ er sein Gepäck zum Zug tragen und geriet an den gleichen Träger, der von Sabine Sacher den Geldschein zugeworfen bekommen hatte. Daß ein so vornehmer Herr ihm nur zwanzig Pfennig Trinkgeld gab, begriff er gar nicht. Ehe er sich von diesem Schock seiner Menschenkenntnis erholt hatte, pfiff die Lok zum drittenmal und zog an.

Ermano Ferro hatte viel Platz im Zug. Nur wenige Gäste waren mit diesem letzten Schiff gekommen. Meistens wurden jetzt Konservenkisten, Postsäcke, Bierkästen und Gemüsekörbe befördert.

Der Schaffner leuchtete die Karte Ferros an und verbeugte sich leicht.

«Bitte, der Herr«, sagte er.»Prego, signore…«

Ferro nickte gnädig. Er lehnte sich an das Fenster und sah hinaus auf die Dünen, die dunkel und voller Geheimnisse an ihm vorbeiglitten. Seine bisher gehemmte Fantasie blühte auf. Er dachte an Liebespaare an einsamen Stellen, an heiße Küsse im Büschelgras, an Seufzer, die der warme Seewind wegtrug. Ihm wurde schwül unter der Kopfhaut. Er öffnete das Fenster und steckte den Kopf in den Zugwind.

Wie wird es erst am Strand sein, grübelte er. Glänzende Strandfeste, schöne Frauen in knappen Badeanzügen, weiße Sandburgen mit lockenden Sirenen, Wind, Sonne, blaues Meer und eine Frau Sacher, die er bewachen mußte.

Er nahm sich vor, von der Bewachung soviel Zeit abzuzweigen, um eigene Sehnsüchte im Rahmen des Erlaubten befriedigen zu können. Die Firma zahlte es ja. Solch eine Gelegenheit fällt einem Bornemeyer nur einmal in den Schoß.

Der Lichtfinger des Leuchtturmes glitt über den Nachthimmel. Dort, wo der Strand mit den Luxushotels lag, war die Nacht fahl.

Tausendfaches Licht verscheuchte die Dunkelheit.

Ermano Ferro strich sich über sein Menjoubärtchen. Er fing die Blicke einiger Mädchen auf, die mit ihm im Abteil saßen und tuschelten. Als er sie anblickte, wurden sie rot und nestelten an Taschen, Rocksäumen, Haaren und taten sonstwas Dummes.

In Bornemeyer-Ferro blühte eine Riesenblume auf. Die Blume des Selbstbewußtseins. Ich muß doch ein interessanter Mann sein, frohlockte er innerlich. An Abenteuern wird es nicht fehlen. Teufel auch, daß man das nicht früher entdeckte!

Er blickte zur Seite auf die näherkommende Stadt Borkum. Zeit seines Lebens hatte er gehungert. Nie hatte er Freude gekannt, nie konnte er sagen: Ich bin glücklich. Das Studium hatte er sich mühsam durch Nachhilfestunden verdient. Seine Bude, ein Zimmerchen unter dem Dach, direkt unter den mit Zement verschmierten Dachpfannen, bezahlte eine Fabrik, in der er in den Semesterferien Schrauben drehte und Federn stanzte. Das war in Bonn so und auch in Heidelberg. Immer war er außerhalb gestanden, sehnsüchtig zwar, aber sich abfindend mit dem Schicksal, der arme Sohn einer noch ärmeren Witwe zu sein. Nie hatte er feste Freunde, denn die wollten alle etwas erleben, nie konnte er einen Kommers besuchen, nur eins hatte er immer, und das verließ ihn nicht bis zu dem Tage, an dem er auf Kosten seiner Firma nach Borkum fahren durfte: Er hatte Hunger, nach einem Braten, nach Schönheit, nach Geld, nach Leben, manchmal auch nach Liebe.