Nun aber war er Ermano Ferro, Autohändler aus Genua. Sein Bankkonto schien astronomisch zu sein. Er konnte alles haben, was sein Herz begehrte. Es gab keine Schranken mehr, hinter denen das Wunderland der erfüllten Wünsche lag. Nur eine trübe Wolke zog über allem Glück hinweg: Wieder, wie bei seiner armseligen Studentenbude, bezahlte es ein anderer. Zwar nur sechs Wochen lang. Aber seit siebzehn Jahren waren es immer nur Wochen, in denen er einmal durch die Gunst anderer frei von Sorgen sein durfte. Er kam sich wie ein Ausgehaltener vor, wie eine Dirne des Schicksals.
Die Kleinbahn hielt schnaufend am Kurmittelhaus. Ein Lichtermeer umfing Ermano Ferro. Das kannte er von Düsseldorf her, aber die großen Hotels, die lange gläserne Wandelhalle, die Cafes und Bars, das Spielkasino, das Kurtheater, die Strandpromenade und die weißen Villen, dieser ganze konzentrierte Reichtum auf ein paar Quadratmetern, umfing Bornemeyer wie mit eisernen, hemmenden Klammern.
Nicht klein werden, sagte er zu sich. Nur nicht wieder zurückfallen in die Welt subalterner Nickemänner. Einem Ermano Ferro imponiert dieser Reichtum gar nicht, er findet ihn höchstens fade.
Ein Boy der Pension >Seeschwalbe< nahm seinen Koffer in Empfang. Er fragte nicht lange, denn einen Ferro konnte man nicht übersehen. Reichtum hat eine Ausstrahlung, die von einer 1.000-Watt-Birne nie erreicht wird.
Während der Boy vor Ferro zur Pension trabte und sich ausrechnete, was er wohl von dem schwerreichen Italiener an Trinkgeld bekommen würde und was man sich dafür kaufen sollte, wandelte Bornemeyer unter den sprechenden Blicken junger und älterer alleingehender Damen über die erleuchteten Straßen, ab und zu sein Bärtchen streichelnd, mokant lächelnd und Abenteuerversprechungen ausstreuend.
Die >Seeschwalbe< war ein Zweigunternehmen des >Seeadlers<. Sie hatten den gleichen Besitzer, die gleichen Ansichtskarten, das gleiche bürgerliche Essen< und die gleichen vornehmen Gepflogenheiten. Pension >Seeschwalbe< hatte dementsprechend auch eine besondere Kategorie von Stammgästen: Höhere Beamte, pensionierte Gerichtsräte, Prokuristen mittlerer Betriebe und Geschäftsleute mit Filialen.
In diese lautere Gesellschaft mit gediegenen Ansichten und moralischem Korsett trat nun ein Millionär! Das war eine Sensation, die die Direktion nicht nur zu würdigen wußte, sondern etwas aus der Fassung brachte.
Als vor einem Tag der italienische Millionär Ermano Ferro sich aus Düsseldorf anmeldete, auf Empfehlung eines Freundes, sagte er noch, hatte die Direktion der >Seeschwalbe< bedenkenlos zugesagt.
Ein solcher Fisch an der Angel wiegt mehr als drei verärgerte Postinspektoren. Das ist nun mal so im Leben, daß mit dem Angebot die Moral abnimmt.
«Wir werden das schon regeln«, sagte die Direktion, als der Geschäftsführer der >Seeschwalbe< händeringend den Ausverkauf des Hauses meldete.»Wir werden einen anderen Gast woanders unterbringen.«
«Aber wenn der Gast nicht will?«
«Er wird wollen! Wir werden ein besseres Zimmer anbieten, in einem Luxushotel! Wir schaffen es schon.«
Das dachte die Direktion. Um einen Renommiergast zu bekommen, muß man Opfer bringen. Außerdem würde man alle Mehrausgaben auf sein Essen aufschlagen. Das war einfach. Der speziell zu seiner Bedienung angewiesene Kellner würde bei jeder Rechnung lediglich das Tagesdatum dazurechnen.
Abgesehen davon würde man von allen anderen Pensionen beneidet werden, es sprach sich herum, wer in der >Seeschwalbe< wohnte, man wurde empfohlen. Was tut man nicht alles für die Hebung des Niveaus!
Aber die Rechnung ging nicht auf. Der Beamte, der hinausgesetzt werden sollte, ging nicht. Er war ein Postoberinspektor und wollte, entgegen seines Berufes, nichts von einer Beförderung wissen.»Ich bleibe«, sagte er.»Was soll ich in einem Luxushotel! Ich wohne seit drei Jahren hier!«
«Aber wir bezahlen es!«rief die Direktion im Chor.
«Ich fühle mich im Luxus nicht wohl!«sagte der Oberinspektor und ging auf sein Zimmer, wo er sich einschloß. Das war sein gutes Recht. Er hatte vierzehn Tage im voraus bezahlt.
Und der Millionär stand vor der Tür! Die Direktion verglich ihre Uhren wie vor einer Schlacht und raufte sich dann die Haare. In wenigen Stunden kam der Genueser an! Was sind Stunden, wenn das Recht auf Seiten des Gegners steht?
Vermittlungen schlugen fehl. Der eingeschlossene Beamte las seine Zeitung, rauchte eine Zigarre und ging ins Bett, als man ihm, höchste Stufe der Schikane, das Licht im Zimmer absperrte, indem man die Sicherung herausdrehte.
Der Geschäftsführer der >Seeschwalbe< lehnte jede Verantwortung ab. Die Direktion wurde bleichsichtig und führte erregte Gespräche mit dem Schwesterunternehmen >Seeadler<. Dabei erwies sich, daß es eigentlich nur eine einzige Gelegenheit gab, den wertvollen Gast für das Unternehmen zu retten. Man mußte ein einzeln belegtes Doppelzimmer als Zweibettzimmer vermieten.
Dieser Ausweg erzeugte im >Seeadler< eine Gänsehaut. Aber es blieb keine Zeit, sich mit dieser körperlichen Reaktion zu beschäftigen. Durch das Telefon flog der Ruf:»Er kommt!«Und damit war die Situation nicht mehr zu retten.
Ermano Ferro betrat hinter dem Boy die kleine Halle der Pension. Der Portier, der Geschäftsführer, der zweite Direktor (der erste Direktor hatte plötzlich einen Schwindelanfall bekommen und ließ sich wegen Blutleere im Gehirn entschuldigen) und der Oberkellner stürzten auf ihn zu und versuchten, ihn italienisch zu begrüßen.
Bornemeyer-Ferro winkte gelassen ab. Seine Haltung, seine Bewegungen, sein Gesicht waren zurückhaltende Vornehmheit. Er musterte die Gäste, die im Speisesaal saßen und durch die Glastür zu ihm hinstarrten.
«Ich spreche deutsch«, sagte er mit einem deutlichen südländischen Akzent. Er hatte ihn geübt, und mittlerweile fand er diese Aussprache selbst irgendwie betörend.»Ich möchte sofort auf mein Zimmer.«
Der Geschäftsführer drehte sich herum. Er schwitzte kalt und bekam rote Ringe vor den Augen. Der zweite Direktor klingelte diskret, aber intensiv nach dem ersten Direktor. Blutleere im Gehirn hin und Blutleere her. Hier muß der Chef selbst die Suppe auslöffeln.
Der erste Direktor kam. Er knickte in der Mitte ein, hieß Erma-no Ferro herzlich willkommen, was die anderen auch getan hatten, und stellte dann mit Entzücken fest, daß Ferro wie er ein Monokel trug.
Es ist eine Tatsache, daß gleiches Leid oder gleiche Freude eine
Seelenverwandtschaft hervorrufen. Ein Mann, der ein Monokel liebt, kann einem anderen Mann, der auch solch eine blitzende Scheibe vor dem Auge balanciert, nicht böse sein. Es wäre wider die Natur.
«Signore wollen auf das Zimmer?«sagte der erste Direktor stockend. Dabei musterte er giftig den zweiten Direktor. Welche Memmen, hieß dieser Blick. Man muß einer solchen Situation gewachsen sein. Er winkte lässig und sah dabei den Boy an.
«Wie Sie wünschen, Signore! Boy — führe den Herrn Ferro auf sein Zimmer!«
Der angesprochene Boy starrte den Direktor dumm an. Der Geschäftsführer lehnte sich gegen die Wand. Ermano Ferro sah sich um. Sein Hochmut ging in die Potenz.
«Ist etwas nicht in Ordnung?«fragte er hellhörig.»Haben Sie etwa gar kein Zimmer mehr frei?«Er sah den zweiten Direktor, den ersten Direktor, den Boy und verstand.»Meine Herren — das wäre eine Couchonerie!«
Der erste Direktor nickte. Er war dankbar, daß Ferro nicht laut von >Schweinerei< geredet hatte, sondern den vornehmen französischen Ausdruck benutzte. Der Mann hat Kinderstube, dachte der Direktor.
«Etwas Unvorhergesehenes ist eingetreten. Wir hatten Ihr Zimmer bis gestern belegt. Der Gast sollte gestern ausziehen. Er hatte es fest versprochen! Aber nun bleibt er! Er bleibt trotz unserer dringendsten Vorstellungen. Er hat eine Verlängerungswoche bezahlt — über sein Reisebüro, und wir haben diese Nachricht erst heute mit der Morgenpost bekommen!«Das war herrlich gelogen, aber glaubhaft. Der erste Direktor warf einen Blick in die Runde. Seht, so rettet man seine Haut!