Ferro eilte hinterher. Die erklärenden Worte, die ihm nachschwirrten, hörte er nicht mehr. Er stürmte durch die offene Tür in das große Zimmer, klopfenden Herzens und ein Bonmot suchend, mit dem er sich der bestimmt wartenden Dame vorstellen wollte.
Aber das Zimmer enttäuschte auf den ersten Blick. Was Ferro zunächst sah, war eine große, hohe, bunte spanische Wand, die man quer in das Zimmer gestellt hatte und die den Raum in zwei gleiche Teile trennte. Es gehörte keine große Fantasie dazu, hinter dieser großgeblümten Stoffwand ein zweites Bett, einen Waschtisch, einen Schrank und einen Sessel zu vermuten. Das gleiche Mobiliar stand im Ferroschen Teil. Nur das große Fenster gehörte beiden Bewohnern gemeinsam. Jeder hatte einen Flügel, über den er frei verfügen konnte.
Ermano Ferro gab den Boys zwei Mark Trinkgeld und winkte ihnen zu, ihn allein zu lassen. Dann setzte er sich auf sein Bett, starrte die spanische Wand an, tippte mit dem Finger gegen den Stoff und holte ein Taschenmesser aus der Tasche. Aufgeklappt legte er es auf die Bettdecke. Hindernisse sind dazu da, daß man sie überwindet, hatte schon sein Mathematiklehrer gesagt, als er vor den Logarithmen versagte.
Zunächst verhielt sich Ferro-Bornemeyer ganz still. Er wußte nicht, ob er allein war oder ob >sie< jenseits der Blumen schon in den Federn lag und ebenfalls zu ihm hinüberlauschte. Wir warten vielleicht beide, was der andere jetzt wohl tut, dachte Ferro. Unsicherheit überfiel ihn. Es ist ein verdammt dummes Gefühl, in einem Zimmer zu sein, ohne zu wissen, ob man allein ist.
Ermano Ferro räusperte sich.
Stille.
Er räusperte sich stärker.
Männlich stärker. Nachhaltig.
Räuspernde Männer kann man nicht überhören. Das Räuspern eines Mannes ist wie der verhaltene Brunftschrei eines Hirsches. Ihn zu verstehen bedarf es keiner Vorbildung.
Ferro lauschte.
Stille.
Leise zog er die Schuhe aus und schlich auf Strümpfen zu der spanischen Wand. Zentimeterweise tastete er den Stoff ab; er suchte an den Stellen, wo er an die Holzleisten genagelt war, ein Loch, eine undichte Stelle, einen Stoffehler.
Nichts.
Enttäuscht ging er zum Bett zurück und setzte sich wieder.
Zu hoch ist sie auch, grübelte er. Hinüberblicken kann man nicht. Wozu gibt man mir ein Doppelzimmer, wenn man solch eine dumme Stoffwand dazwischen stellt? Was soll dieses entehrende Mißtrauen?
Ich werde mich morgen bei der Direktion beschweren und meine Zusage einer Empfehlung an meine südamerikanischen Freunde zurückziehen.
Ein neuer Gedanke kam ihm. Er ging ans Fenster und schloß einen Fensterflügel. Dann angelte er um die Wand herum und versuchte, den zweiten Flügel zu erhaschen. Was er sah, war die Ecke eines weißen Kleiderschrankes.
Und es blieb still.
Wütend ging er zurück zu seinem Bett. Nicht mal ein Balkon ist vor dem Fenster! Es blieb nur das Taschenmesser, etwas brutal und plebejisch. Außerdem war jetzt klar, daß er allein im Zimmer war. Einen um die Wand tastenden Männerarm kann man nicht übersehen. So etwas nimmt keine Frau widerspruchslos hin.
Was soll man jetzt tun, dachte Ferro. Warten? Sich ausziehen und ins Bett legen? Das könnte die Dame als eine zu deutliche Aufforderung ansehen.
Sollte man hinterher in die Halle gehen und etwas für die Firma tun? Irgendwo und irgendwann würde man Frau Sabine Sacher sehen und versuchen, sich ihr zu nähern.
Ermano Ferro entschloß sich nach längerem Nachdenken für das Warten. Er setzte sich in den Sessel, knipste das gemeinsame Dek-kenlicht an und las in der Abendzeitung, die die Direktion auf den Tisch gelegt hatte.
Nach wenigen Zeilen legte er sie wieder zurück. Seine Nerven zitterten. Woher soll ein Mann die Ruhe zur Lektüre nehmen, wenn gleich nebenan eine Frau sich auszuziehen beginnt? Nervös fingerte er sich eine Zigarette aus der Schachtel, die er sonst nur für Mandanten dabeihatte, und paffte vor sich hin.
Ferro-Bornemeyer bekam einen erotischen Komplex. Er träumte, er malte sich die Zukunft aus, als sei er ein Toulouse-Lautrec. Er schwelgte in Bildern und übertraf Rubens'sche Frauenideale.
Sie soll hübsch sein, dachte er selig. Vielleicht ist sie blond, blond war schon immer seine stille Sehnsucht. Als Student wohnte er einmal bei einem Bierausfahrer, der eine blonde Tochter hatte. Sie hatte ihn nie beachtet, weil er arm und blaß war. Aber das Blond ihres Haares hatte ihn zu heimlichen Gedichten angeregt und blieb in ihm haften.
Gleich wird sie hinter der spanischen Wand sein, träumte er weiter, und sich ausziehen. Es wird rascheln, erst das Kleid, dann die seidenen Dessous, leise wird das flordünne Nachthemd rauschen, ein Hauch von Blüten wird durch das Zimmer schweben, süß, betörend, lockend, ihr Parfüm, sie wird sich die Haare kämmen, ein jeder Strich des Kammes durch die Locken wird knistern vor Elektrizität und Temperament, dann wird das Bett knarren, vielleicht seufzt sie auch einmal, sehnsuchtsvoll, begehrend, und dann löscht sie das Licht und schläft.
Oder, Ferro zog die Stirn in Falten, sie wird sich die Zähne putzen, gurgeln, daß es rasselt, wird ins Waschbecken spucken wie ein Kutscher, sich hinlegen und schnarchen, daß die spanische Wand sich bläht.
Eines wird es auf jeden Fall sein: ein Abenteuer.
Um seine Gedanken nicht ganz entgleiten zu lassen, griff er wieder zur Zeitung und zwang sich, zu lesen. Mitten in einem Artikel über die Konjunktur von mageren Schlachtschweinen klappte die Zimmertür. Er hörte, wie leichte Schritte den einen Teil des Zimmers durchquerten.
Ferro-Bornemeyer warf die Zeitung weit weg.
Sie!
Im Zimmer!
Sie war gekommen!
Ferro hielt den Atem an. Es kam ihm vor, als bliese er mit sei-nen Bronchien Posaune.
Zunächst geschah nichts. Gar nichts.
Sie ging zum Schrank, öffnete die Schranktür und hängte etwas über einen Bügel.
Dann war es still. Ferro schnaufte die angehaltene Luft aus. Jetzt, dachte er, jetzt! Daß der Schlafpartner schon im Raume war, wußte sie, denn das Licht brannte ja. Außerdem lag der Rauch seiner Zigarette süßlich im Zimmer. Regte dieser männliche Geruch sie nicht auf?
Ferro konstatierte einen Anknüpfungspunkt. Er sorgte für eine Geräuschkulisse. Er erhob sich aus seinem Sessel und ließ ihn laut knarren. Die Dame hinter der spanischen Wand lächelte leicht. Das konnte er nicht sehen. Es war überhaupt gut, daß er nichts sah.
Ferro streckte den Kopf witternd vor. Nichts! Die Dame sprach nicht das erste Wort. Statt dessen ging sie zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Man hörte es am Knirschen der Fingergelenke. Der Duft von einem starken Eau de Cologne verfeinerte die Atmosphäre. Ferro-Bornemeyer schnupperte wie ein kleiner Hund hinter einem größeren Bruder und murmelte halblaut:»Ahh!«Dann knitterte er die Zeitung zusammen, beugte sich über das Bett und ließ eine Matratze knarren.
Nichts.
Stille.
Da! Seide raschelte.
Sie zieht sich aus! Wonne, Wonne, sie zieht sich bereits aus!
Ferro-Bornemeyer fühlte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Er wollte ihn hinunterschlucken, aber der Kloß war eigensinnig und klammerte sich in der Speiseröhre fest. Ferro fuhr sich mit beiden Händen in die gefärbten Haare und raufte sie sich. Seine an sich schon durch das Warten überzüchtete Fantasie schlug Kapriolen. Bilder unerhörter Lebensnähe drängten sich ihm auf und zerfetzten sein Gehirn.
Wieder raschelte es. Leiser, dezenter.
Ferro hielt sich die Ohren zu. Sein verzweifeltes Räuspern, das er gegen die spanische Wand schickte, klang wie ein Stöhnen.
Zwei nackte Füße tappten zum Fenster. Ein schlanker, weißer, nackter Arm tauchte für Sekunden auf und öffnete das Fenster wieder, das Ferro geschlossen hatte. Dann trippelten die nackten Füße zurück, tapp, tapp, tapp.
«Ich kann Tabakqualm im Schlafzimmer nicht vertragen.«