Peter Sacher nickte und ging in das Restaurant. Er aß zu Mittag, studierte die Mittagszeitungen und las etwas von einem Galopprennen auf dem Pariser Rennplatz Longchamps.
Longchamps, dachte er. Das hat einen Namen unter den europäischen Turfplätzen. Dort trifft sich die Eleganz von Paris. Dort sieht man schöne Pferde und Frauen. Dort muß etwas los sein, was die trüben Gedanken verscheucht.
Wer Laie im Pferdesport ist, wer es nur kennt aus den Wochenschauen und Filmen, hat schnell einen etwas verschrobenen Eindruck von diesem Sport. Auch Peter Sacher machte darin keine Ausnahme. Er las noch einmal die große Anzeige in der Zeitung und legte sie dann zur Seite.
Was braucht man alles für Longchamps, überlegte er.
Zuerst einen grauen Zylinder.
Das ist das markanteste auf den Rennplätzen, wie es im Film immer gezeigt wird: grauer Zylinder, hellgrauer Cut, weiße Gamaschen. Dazu ein Fernglas. Eine dicke Starterliste. Totozettel, Buchmacheradressen und eine dicke Brieftasche voller Geld. Die dazugehörigen schönen Frauen stellen sich dann von selbst ein.
So dachte Peter Sacher. Man sieht, er war ein Laie des Pferdesports. Außerdem stand es so in der Zeitung, die er in der Hand hielt. Ein großes Werbebild war neben dem Text: Es zeigte einige sehr vornehme Herren im grauen Cut mit Zylinder und herrlich schöne Frauen in luftigen Sommerkleidern und breiten, aus Nylon hingehauchten Hüten.
Es stand außer Zweifel, daß ein Rennen in Longchamps zu den großen gesellschaftlichen Ereignissen gehörte und dazu auch den äußeren Rahmen verlangte.
Er bezahlte und trat hinaus auf die sonnenheiße Rue Etienne. An der Ecke zur Avenue de l'Opera parkte eine Taxe. Es war der fran-zösisierte Berliner. Von der Sonnenglut erschlafft, saß er auf dem Fahrersitz, den Kopf zurückgelehnt und schlief. Sein Schnarchen, das aus dem offenen Mund entwich, war gewaltig, der Anblick nicht gerade ästhetisch.
Peter drückte auf die Hupe. Grell schrie sie auf. Der Chauffeur fuhr empor, mit stieren Augen boxte er um sich.»Alarm!«schrie er.»Alarm!«Dann wurde sein Gehirn klar, und er erkannte seinen deutschen Fahrgast.
«Det is'n Ding!«schrie er.»Ick schlafe ein, träum von die Mäd-cher, und Se wecken mir, als ich jrade zujreifen will. Sacre bleu! Wat is, Landsmann? Noch mal en bißchen durch Paris, oder zur Tagesabsteige, wat?«
Peter Sacher setzte sich wieder auf seinen Rücksitz.»Hinaus nach Longchamps — was halten Sie von der Idee?«
«Schön. Da sind die dicken Brocken. Die kosten aber Jeld, Herr Architekt! Die haben alle ihre eijene Wohnung.«
«Pferde will ich sehen! Sonst nichts. Ich brauche aber dazu noch einige Kleinigkeiten. Vor allem die nötige Kleidung.«
Der Berliner lachte breit.»Vastehe! Grauer Bibi, wat? Graue Schwalbenschwänze und weiße Treter. Sie, ich weeß 'n Geschäft, die so 'n Dreh verleihen. Kleene Kaution und pro Tag 1.500 Franken. Det is billiger, als sich die Klamotten zu koofen! Ick fahr Se hin, wat?!«
Er fuhr los, kreuz und quer durch Paris. In einer dunklen Gegend in der Nähe der Rue Riquet hielten sie vor einem kleinen, düsteren, schmutzigen Kleiderladen. In seiner blinden Schaufensterscheibe spiegelten sich der Schmutz der Straße und die grauen Fassaden der Häuser. Hinter dieser Scheibe sah man lange Ständer mit gebrauchten Anzügen aller Farben und Formen. Selbst Uniformen hingen da aus vier Jahrhunderten. Der Fundus eines Trödlers.
«Hier?«fragte Peter Sacher gedehnt und rieb sich die Nase.
«Ja.«
«Das sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus.«
«Hier leihen sich die verarmten Grafen ihre Fräcke, wenn sie einmal eingeladen werden. Sylvester holte hier der Fürst Odnisuppoff seine zaristische Uniform. In allen Zeitungen war er abgebildet, weil die sowjetische Botschaft Protest gegen dieses öffentliche Auftreten einlegte. Und der Marquis von Sustiere leihte sich.«
Peter winkte ab.»Ich glaub' es Ihnen. Aber wenn man so durch die dreckige Scheibe guckt?«
«Det is eben Paris, Landsmann! Det vastehen de Fremden nicht. Hier is det Schmutzigste det Reellste. Je mehr Kronleuchter, um so jrößer de Gauner! Sehn Se sich die Buchläden an. An der Seine die Karren, det sin die Joldjruben! Da kann man wat Schönes koofen für 'n paar Centimes. Da kommen se von den Universitäten, olle Professoren, und kramen in den dreckigen Karren herum.«
Er stieg aus, ging zur Tür des kleinen Ladens und zog an der Schelle. Es schepperte grell, die rostigen Türangeln quietschten, als er die Tür öffnete. Peter Sacher folgte ihm. Daß es so etwas noch im 20. Jahrhundert gibt, dachte er.
Aus dem Halbdunkel des Hinterladens schoß ein rundes Männlein hervor. Es hatte einen riesigen Kopf, der nur aus ineinandergedrehten Haaren zu bestehen schien. In diesem Gewirr von Bart,
Löwenmähne, Ohren und Mundschlitz schwankte eine große Goldbrille.
Er betrachtete die Eintretenden ganz genau. Jetzt schätzt er den Preis, dachte Peter. Dann wurde er von einem Wortschwall überschüttet. Er kam mit einem Luftzug, der nach Zwiebeln roch. Der Chauffeur nickte und brüllte dazwischen. Gleich schlagen sie sich, durchfuhr es Peter. Aber nichts dergleichen geschah. Der kleine Mann schien im Bilde zu sein und rannte wieselschnell davon.
Zwischen den Regalen entstand eine Unruhe. Kleider wurden hin und her geschoben, es raschelte laut. Ständer und Stangen schwankten, irgendwo krachte es laut, als fiele eine Decke ein, dann kam das Männlein auch schon zurück, über dem Arm die Ausstattung eines Gentleman tragend.
Grauer Cut, hellgrauer Zylinder, schwarze Lackschuhe, weiße, hohe Gamaschen. Alles breitete es auf einer schmutzigen Glastheke aus, unter der Talmischmuck in Haufen lag. Mit glänzenden Augen strich es die Revers des Cuts glatt und machte die Geste eines Eroberers, der seinem König einen Erdteil vor die Füße legt.
«S'il vous plait!«
«Bon. «Peter Sacher nahm den Cut, zog seine Jacke aus und probierte ihn an. Der kleine Mann schien ein vortreffliches Augenmaß zu haben. Er schlug die Hände begeistert zusammen und sprang in die Luft wie ein hingeworfener Gummiball.
«Excellent!«rief er schrill.»Un comte!«
«Wie 'n Jraf«, dolmetschte der berlinische Franzose.»Det is wirklich wahr. Se sehen aus! Piekfein! Se haben de richtige Cutfijur. «Er stülpte Peter noch den grauen Zylinder auf den Kopf und schob ihn vor einen großen, blinden, fleckigen Spiegel, dessen unterer Silberbelag abblätterte.»Der schönste Mann von Longchamps. Wat!? Det jibt Chancen bei die Weiber.«
«Ich will Pferde sehen!«sagte Peter Sacher noch einmal betont.
«Det sajen se alle, die nach Paris kommen.«
Peter zog den Cut aus und setzte den Zylinder ab. Er zahlte die Hinterlegungssumme, die der Chauffeur nach einem erregten Han-del mit dem Männlein nannte, sah dann sein gräfliches Aussehen in rohes Packpapier verpackt und verließ den Laden mit dem Gefühl, die Pariser nie verstehen zu lernen.
Im Wagen, das Paket auf den Knien, tippte er dem Fahrer auf die Schulter.
«Jetzt müssen wir irgendwohin, wo ich mich unauffällig umziehen kann. Die Rennen beginnen in einer Stunde. Um nach Hause zu fahren, ist es jetzt zu spät.«
Im geheimen fürchtete er, daß Coucou zurückgekommen war. Mit Coucou aber nach Longchamps zu fahren, schien ihm unmöglich. Man sah Coucou an, wer sie war.
«Det werd'n wir och jleich haben«, sagte der Chauffeur. Die Taxe raste in einem mörderischen Tempo durch die belebten Straßen, bremste kreischend vor den Ampeln, schlidderte am Canal de l'Ourcq vorbei. Peter Sacher schloß die Augen. Er hatte nicht mehr die Nerven, das anzusehen, was er selbst in Düsseldorf tat, wie Sabine behauptete, die neben ihm saß und es deshalb wissen mußte.
«Hier ist's«, sagte der Chauffeur. Peter öffnete die Augen. Sie standen vor dem Gare de l'Est.
Mit seinem Paket unter dem Arm verschwand Peter im Gewühl der Reisenden. Auf der Bahnhofs-Toilette zog er sich um. Wie einst der Hauptmann von Köpenick, verließ er wenig später den ungesellschaftlichen Ort in eleganter Gesellschaftskleidung.