Zur gleichen Zeit las auch Sabine Sacher ihre Nachricht. Auch sie kam aus Düsseldorf und lautete kurz:
>haben alles erfahren — stop — ihr mann außer sich — stop — rückkehr nach düsseldorf dringendst empfohlen — stop — warten sie bitte brief ab — stop — dr. portz.<
Ermano Ferro zerknüllte das Telegramm und steckte es in die Hosentasche. Mit bleichen Lippen schob er die Seezunge weg. Der Appetit war ihm vergangen.
Mit großen Augen sah ihn Sabine an. Sie war blaß geworden und legte die Hände auf ihren Schoß, weil sie zitterten.
«Ist es etwas Schlimmes?«fragte sie ängstlich.
Bornemeyer schüttelte heftig den Kopf.
«Nein, nein! Rein geschäftlich! Mein Kompagnon, man soll nie Kompagnons haben, drahtet mir, daß die Fertigstellung der neuen Automodelle sich um zwei Monate verzögert. Am Auspuff stimmt etwas nicht.«
«Am Auspuff.«
«Ja!«
«Das ist wohl ein großer Schaden für dich?«
Ferro hob die Hand. Er lächelte gewaltsam.»Ich werde es verschmerzen müssen! Und dein Telegramm, Carissima? Von deinem Mann?!«
«Nein, nein!«Sabine steckte das Telegramm in ihre kleine Handtasche.»Eine Nachricht von einer Freundin. Man soll so wenig Freundinnen wie möglich haben. Es sind alles Schlangen! Diese hier will nach Borkum kommen! Gerade jetzt! Und ich kann diese Frau nicht ausstehen!«Sie ergriff Ferros Hand.»Ermano, wann fahren wir nach
Nizza?!«
«Du kommst mit?!«schrie Bornemeyer fast.
«Ja! Ich muß weg von hier!«
«Wir fahren sofort! Mit dem nächsten SchiffiVon Emden nach Brüssel! Von dort nach Paris.«
«Paris!«Sabine schauderte zusammen, als fröre sie.»Müssen wir über Paris?«
«Nur umsteigen. Von dort geht's nach Nizza!«Ferro schnellte vom Stuhl hoch.»Ich lasse sofort unsere Koffer packen. Ja?«
«Ja.«
Ferro eilte aus dem Speisesaal.
Flucht, das war auch der erste Gedanke bei Sabine, als sie das Telegramm las. Peter weiß alles. Und er tobte! Peter war nie jähzornig, aber welcher Mann bleibt gelassen, wenn er erfährt, daß seine Frau.
Sabine stützte den Kopf in beide Hände. Wieso ist er so aufgeregt, dachte sie. Wenn seine Frau ihm völlig gleichgültig ist, braucht er nicht den starken und wilden Mann zu spielen. Und was hatte man im Grunde genommen denn getan? Man hatte sich umschwärmen lassen, man hatte sich küssen lassen. Beim letzten Karneval in Düsseldorf hatte Peter mindestens zwanzig Frauen geküßt, und keiner hatte es übel genommen. Und weiß man, was er in Paris getan hat oder noch tut?
Sabine Sacher ging auf ihr Zimmer. Hinter der spanischen Wand hörte sie Ferro rumoren. Er packte.
Dieses Zimmer, dachte sie. Ein Doppelzimmer! Natürlich gibt es zu kritischen Betrachtungen Anlaß. Aber konnte sie dafür, daß die Hotelleitung falsch disponiert hatte? Sie hatte das Zimmer allein gemietet. Das konnte sie beweisen. Und zudem war eine spanische Wand dazwischen, ohne Löcher und Ritzen!
Juristisch allerdings bleibt ein Doppelzimmer immer ein Doppelzimmer. Es war nur unerhört, daß Peter auf einmal so juristisch dachte!
Sie setzte sich auf das Bett, starrte gegen die spanische Wand, und plötzlich weinte sie, obgleich sie es nicht wollte.
Ein leises Klopfen schreckte sie auf. Ferro trommelte mit dem Fingerknöchel gegen die spanische Wand.
«Favorita!«
«Was ist?«sagte Sabine kläglich.
«Wir fahren mit dem nächsten Schiff. In einer halben Stunde geht es ab.«
Sabine schüttelte den Kopf. Da Ferro es nicht sehen konnte, meinte sie mit schwankender Stimme:
«Ich glaube, ich bekomme eine Migräne. Es wird nicht gehen.«
«O Santa Maria!«Bornemeyer prallte zurück.»Lassen Sie mich jetzt nicht allein, Madonna! Bloß das nicht! Ich bitte dich, komm mit! Wir müssen das letzte Schiff bekommen. Morgen ist es zu spät.«
Morgen hat der Baron die Auskunft seines Sekretärs. Dann platzt der Ermano Ferro wie ein Luftballon, in den man hineinsticht.
Morgen kommt ein Brief von Dr. Portz, und ihn konnte man nicht verleugnen. Ein Telegramm kann verstümmelt ankommen, ein Brief ist aber klar!
Ferro rang die Hände. Er kannte die Frauen nicht, aber soviel hatte er bei erfahrenen Schriftstellern und bei scheidungsfreudigen Ehemännern gelesen und gehört, daß für Frauen, die Migräne haben, die Welt untergehen kann; sie haben dafür nur ein mitleidiges Lächeln. Die Migräne einer Frau ist der Untergang der männlichen Beherrschung.
Bornemeyer schloß den Kragen seines Hemdes, schlang die Krawatte um, fuhr in seinen Rock und rannte aus dem Zimmer. Handeln! Die Migräne aufhalten, ehe sie Welten zerstört! Mit langen Schritten raste er die Treppe hinab und stolperte in die Halle, faßte den ersten Geschäftsführer, der gerade in sein Büro gehen wollte, an den Rockschößen und zog ihn zu sich heran.
«Ein Mittel gegen Migräne!«schrie er.»Schnell! Die Signora hat Schmerzen!«
Der Geschäftsführer war zunächst erstarrt. Ehe er etwas antworten konnte, erhob sich ein älterer Herr aus einem der Foyersessel und kam auf Ferro zu.
«Mein Herr, ich hörte soeben Ihren Ruf nach einem Migränemittel. Ich bin Arzt. Dr. Bergner. Wenn ich Ihnen meine Hilfe anbieten darf. Ich werde gerne nach der Dame sehen.«
«Tun Sie es! Schnell! Helfen Sie ihr.«
Bornemeyer raste wieder die Treppen hinauf. Der Arzt folgte ihm. Er ging schnell in ein anderes Zimmer, kam dann mit einer Tasche zurück und betrat darauf das Zimmer, das ihm Bornemeyer zeigte. Er selbst blieb auf dem Flur stehen, verwünschte sich, daß er keine Zigaretten dabei hatte, denn er hätte jetzt gerne geraucht, und rannte im Gang unruhig hin und her.
Der Arzt kam schneller aus dem bizonalen Zimmer, als es Ferro erwartet hatte. Bornemeyer stürzte auf ihn zu.
«Was hat sie?«fragte er atemlos.
«Die Dame hat einen schweren seelischen Schock erlitten. «Der Arzt schüttelte den Kopf. Er sah Ferro kritisch an.»Hatten Sie Streit?«
«Im Gegenteil.«
«Die Dame braucht unbedingte Ruhe! Zwei Tage Bettruhe sind das mindeste.«
Ferro-Bornemeyer hatte das Gefühl, grün im Gesicht zu werden.
«Zwei Tage!«stammelte er.
«Mindestens! Ich habe ein Rezept auf den Tisch gelegt. Die Dame schläft jetzt. Ich habe eine Beruhigungsinjektion gemacht. Sie wird bis morgen fest durchschlafen. Gegen Mittag sehe ich noch einmal nach ihr. Guten Abend.«
«Guten Abend.«
Als der Arzt den Flur verlassen hatte, stürzte Bornemeyer in das Zimmer. Er betrat Sabines Wohnteil und blieb vor dem Bett stehen.
Sabine lag auf ihrem Bett und schlief. Der Arzt hatte ihr die Schuhe ausgezogen, das Kleid und die Strümpfe. Sie lächelte im Schlaf wie ein Kind, das von Puppen träumt.
Verzweifelte haben verzweifelte Gedanken. Das steht ihnen zu; sogar im Gesetz ist für sie der § 51 Abs. 2 eingerichtet worden. Auch
Ferro-Bornemeyer balancierte in diesen Augenblicken auf der Schneide seiner Vernunft. Beim Anblick von Sabines wohlgeformten schlanken Beinen brütete er ein Kabinettstück verminderter Zurechnungsfähigkeit aus.
Er zog die wie eine Tote schlafende Sabine Sacher wieder an.
Er packte ihre Koffer fertig.
Dann ging er hinunter, beglich Sabines und seine Hotelrechnung, erklärte, daß man aufgrund familiärer Ereignisse den Urlaub abbrechen müsse und morgen früh abfahre. Frau Sacher ebenfalls, er selbst fahre gleich. Als neuen Aufenthaltsort gab er Kopenhagen an.
Die Direktion war untröstlich. Ihr Paradepferd verließ die Insel wieder. Aber so ist es, je reicher man ist, um so unruhiger wird man.
Ferro-Bornemeyer rannte wieder die Treppen hinauf, in das Zimmer und packte seine eigenen Sachen. Ein Blick auf die Uhr, die Zeit war knapp geworden bis zum letzten Schiff.