Heinz und Peter waren weitergegangen. Wenn man nur wüßte, wo sie wohnen, grübelte Sabine. Und ob sie allein wohnen?
Es war ein häßlicher Gedanke, aber Sabine nährte ihn, weil er weh tat und sie dadurch spürte, wie lieb sie Peter hatte.
SECHSTES KAPITEL
Die Nacht lag fahl über dem Meer, als vor dem Kurhaus die blitzenden Wagen des Reichtums vorfuhren und Herren im Frack oder bizarren Kostümen und Damen in wundervollen, aus wenig Stoffen bestehenden Fantasiemaskeraden sich den Blicken der die Auffahrt säumenden Neugierigen freigaben. Für eine halbe Stunde wehte mit den süßlichen Parfums auch ein Hauch der ganz großen Welt über die Gaffenden. Die Ansammlung von Brillanten war atemberaubend.
Peter und Heinz kamen zu Fuß. Sie hatten das Geld für eine Taxe gespart, als sie erfuhren, daß der Tarif für diese Nacht um das Dreifache erhöht worden war.
Peter Sacher hatte sich bei einem Kostümverleiher das Gewand eines Seeräubers geliehen. Da es nur aus zusammengesetzten Lumpen bestand, war es billig gewesen. Das teuerste war die Gesichtsmaske. Sie mußte groß sein, um keinen Anhaltspunkt zu geben. Heinz v. Kletow nahm ein Spanierkostüm. Es stand ihm blendend und kostete 50 Francs.
So ausstaffiert gingen sie die Treppen zum Kursaal hinauf, lösten eine Karte, 20 Francs pro Person, erwarben eine Tischkarte mit Sektzwang, 100 Francs pro Person, und betraten den Saal als arme, aber um so besser aussehende Männer.
Ein Gewimmel von Masken und Kostümen empfing sie. Musik schlug ihnen wie eine heiße Sturmwelle entgegen. Die ersten Frauen himmelten sie an. Heinz v. Kletow schob seinen Spanierhut in den Nacken.»Wenn ich darüber nachdenke, daß ich noch 30 Francs in der Tasche habe, könnte ich weinen«, flüsterte er Peter ins Ohr.»Man müßte 10.000 haben. Die Frauen hier sind es wert!«
In diesem Augenblick ging eine herrliche Frau an ihnen vorbei. Sie trug eine silberne Maske, die ihr ganzes Gesicht bedeckte, das Kostüm einer Zigeunerin und schwarze Haare, in denen Mohnblüten wie riesige Blutstropfen leuchteten.
Ganz kurz sah sie zu den beiden Männern hinüber und wandte sich dann ab.
Heinz v. Kletow schnaufte durch die Nase.
«Hast du das gesehen?«fragte er leise.
«Sie hat mich angesehen!«nickte Peter Sacher. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um die silberne Maske zu verfolgen.
«Dich? Du Affe! Mich! Für den Rest des Abends mußt du mich jetzt entschuldigen!«
Kletow wollte davonrennen, aber Peter hielt ihn fest.
«Diese Zigeunerin ist für mich«, sagte er bestimmt.»Ich überlasse dir alle hundert Frauen, die hier noch einen Mann suchen. Nur die Zigeunerin nicht!«
«Wie großzügig! Gerade die Zigeunerin ist.«
«Ich gebe dir 50 Francs!«
Heinz v. Kletow zuckte hoch.»Bin ich ein Altwarenhändler?«
«75 Francs! Mach schnell, sonst ist sie weg!«
«100 Francs!«
«Hier!«Peter Sacher drückte Heinz den Geldschein in die Hand.»Mädchenhändler! Und ich will dich bis morgen früh nicht mehr sehen!«
Sie gingen in verschiedenen Richtungen auseinander. Peter Sacher rannte durch das Gewühl der herrlichen Zigeunerin nach, Heinz v. Kletow ging auf die Suche nach seinem Typ.
Vor dem Ausgang in den Park gelang es Peter, in ihre Nähe zu kommen. Er umkreiste sie, bis er vor ihr stand und ihr den Weg versperrte.
«Seeräuber verlangen Brückenzoll!«sagte er auf deutsch. Vielleicht versteht sie's, dachte er. Wenn nicht, weiß sie auch so, was ich will.
Die Zigeunerin zuckte zusammen, als sei sie wirklich überfallen worden. Sie drückte die Maske näher an das schmale Gesicht und lehnte sich an eine der Säulen.
Er erkennt mich nicht, dachte sie. So also spricht er fremde Frauen an. Wild, überwältigend, voll jungenhaftem Übermut.
«Was verlangen Sie?«fragte sie.
Peter Sacher war es, als habe man ihn in ein Becken mit Eiswasser getaucht. Sabine, durchfuhr es ihn. Ihre Stimme, die Betonung der Worte, die Haltung des Kopfes, und sie erkennt mich nicht. So also läßt sie sich von fremden Männern ansprechen: keck, ohne Zögern, mit einer Frage, was es kostet!
Er betrachtete sie genauer. Wie jung sie aussah! Und wie herrlich schön und verführerisch. Warum hatte sie sich früher für ihn nie so angezogen? Warum war sie immer das Hausmütterchen, das unter der Lampe saß und stopfte? Oder Kreuzworträtsel löste. Schimpfwort mit vier Buchstaben: doof. Das hatte ihn immer maßlos aufgeregt. Daß es nur eine Flucht vor ihm war, hatte er nie begriffen. Die Flucht aus der Eintönigkeit in die etwas anregendere Welt des Geistesspieles.
«Sie sprechen deutsch?«sagte er stockend.»Wie herrlich. Finden Sie nicht auch, daß eigentlich Seeräuber und Zigeunerin gut zusammenpassen?«
«Das ist Ansichtssache.«
«Sie könnten mir die Zukunft aus der Hand lesen. «Er streckte sie ihr hin. Sabine nahm seine Hand. Sie bezwang sich, nicht zu
zittern.
«Ich sehe Schlimmes«, sagte sie mit letzter Keckheit.»In Ihrem Leben wird es bald eine Explosion geben.«
«Ich explodiere vor Ihnen, silberne Maske! Ich bin schon jetzt ein Vulkan!«
Sabine ließ seine Hand fallen. Schuft, dachte sie. So also sprichst du mit fremden Frauen! Ein Vulkan bist du, und zu Hause gähnst du, suchst deine Filzpantoffeln und schläfst beim Lesen ein! Wie gemein du bist, wie unbeschreiblich gemein!
Sie hakte sich bei Peter unter und rieb ihr Gesicht an seiner Schulter.
«Vulkane kann man löschen! Verrate mir, womit!«
Peter nahm es den Atem. Oh, dachte er, Sabine! So wirfst du dich also fremden Männern an den Hals! Locken kannst du, girren wie eine Taube, Versprechen geben, vor denen Eisberge schmelzen, und zu Hause läufst du ab 8 Uhr abends im Morgenrock herum, blätterst in der Lesemappe und amüsierst dich damit, daß der Hund bellt, wenn du mit deinen Zehen wackelst! Ich bin für dich Luft! Das einzige, was du sagst, wenn du schlafen gehst, ist: Komm nicht zu spät! Morgens kannst du dann wieder nicht aus dem Bett! Nur Vorwürfe, nur Sticheleien, und hier fragst du einen fremden Mann: Womit kann ich Ihren Vulkan löschen? Und sofort duzen tust du ihn auch noch! Oh, Sabine!
Er zog sie mit sich fort, zu einem Blumenstand. Dort suchte er eine dicke, rote Rose aus und steckte sie ihr ins Haar.
«Der allerschönsten Frau«, sagte er dazu. Er meinte es ehrlich, und doch wollte er damit sehen, wie sich Sabine benehmen würde.»Wäre sie aus Gold, sie würde trotzdem nie deiner Schönheit gleichen.«
Sabine lächelte gequält. Sieh einmal an, dachte sie. So lieb und charmant kannst du zu anderen Frauen sprechen! In den letzten fünf Jahren hieß es immer: Ach, ich bin abgespannt und müde. Geh allein ins Kino. Laß mich in Ruhe! Was du nur immer hast mit deinem: Das Geschäft frißt dich auf. Ich arbeite ja, damit wir was zu essen haben! So hast du fünf Jahre lang auf meine Bitten geantwortet!
Dann hattest du Magenschmerzen oder Fußschmerzen oder geschäftliche Besprechungen. Aber nie hast du mich so fest in den Arm genommen und getanzt. Seit vier Jahren nicht mehr! Du bist ja so gemein, Peter!
«Eine Zigeunerin kann zaubern«, sagte sie leise.»Auch ein Seeräuberherz kann sie verzaubern und stehlen! Du weißt doch: Zigeunerinnen stehlen.«
Peter Sacher atmete hastig. Wie sie rangeht, durchfuhr es ihn glühend. Als wenn sie die ganzen Jahre hindurch nur mit Männern gespielt hätte! Zu Hause hatte sie immer Migräne, wenn ich sie zu einem wichtigen Herrenabend mitnehmen wollte. Und wenn ich dann todmüde nach Hause kam, schimpfte sie noch und nannte mich einen rücksichtslosen Burschen.
«Tanzen wir!«schrie er, um seinen inneren Druck loszuwerden.»Da, ein Tango! Das ist der Tanz verliebter Seeräuber und stehlender Zigeunerinnen!«
Sie tanzten. Peter gab sich alle Mühe, diesen Tango durchzustehen. Er mochte keinen Tango. Aber er zählte innerlich alle Takte mit, rekapitulierte die Schritte und Figuren und brachte es fertig, Sabine fehlerfrei durch den Tanz zu bringen. Sie war aber auch eine herrliche Partnerin, federleicht, schwebend, sich im Takte wiegend, mit einem Siegeslächeln auf den Lippen. Einfach betörend.