Kleine Fälle übernahm Assessor Hubert Bornemeyer allein. Meistens gewann er sie sogar. Er hatte vor Gericht eine umwerfende Art, Mitleid zu erzeugen, mit sich, mit seinem Klienten, mit seinem Plädoyer, mit seiner naiven Beweisführung. Es war fast, als könnten die Richter ihm nicht weh tun und ließen ihn deshalb gewinnen. Dr. Portz war jedesmal verblüfft, wenn Bornemeyer eine Akte als erledigt ins Archiv gab.
In den Pausen zwischen solchen Vorfällen sah man Bornemeyer meistens butterbrotkauend in der Kanzlei. Es ging die Sage durch das Büro, daß er seine besten Gedanken beim Abfassen eines Schriftsatzes empfing, wenn er ein Brot mit gut gelagertem Romadour aß.
Peter Sacher platzte in diese gut eingespielte Praxis wie ein Hurrikan. Er durchquerte Büro, Kanzlei und Vorzimmer, ohne sich aufhalten zu lassen, klopfte kurz an die Eichentür des Allerheiligsten und trat, ohne Antwort abzuwarten, ein.
Dr. Ernst Portz saß hinter seinem wuchtigen Renaissanceschreibtisch (Renaissance ist immer gut. Sie verbreitet das Fluidum zurückhaltender Bildung), las einen langen Brief und kaute einen Bonbon. Er war groß, wuchtig fast, hatte ein gerötetes Gesicht, wie es Rotspontrinker haben, das durch die Vielzahl dicker Mensurnarben wie eine zerklüftete Felsenlandschaft aussah, kleidete sich salopp, liebte offene Kragen und sprach mit dem Pathos eines alten Heldenvaters des Wiener Burgtheaters.
Als er Peter Sacher eintreten sah, schnaufte er tief und ehrlich und schluckte den Bonbon hinunter.
«Guten Tag, du Urviech!«sagte er dröhnend.»Die Hitze draußen bringt mich um! Begreife, was ich leide: Draußen Tropenglut, um mich herum Aktenstaub, nebenan Büromief, im Stenozimmer ein Parfümerieladen. Peter, wie ich dich beneide!«
«Ausgerechnet mich«, sagte Peter sauer.
Dr. Portz überhörte die Resignation. Er war im Begriff, sich zu bedauern. Welcher Mann läßt sich dabei durch andere Argumente stören?!
«Du bist allein!«sagte er.»Du kannst an die frische Luft, wenn und wann es dir paßt. Man sagt dann einfach: Muß 'nen Bau besichtigen! Du verdienst dein Geld, indem du ruckzuck ein paar Mauern aufs Papier wirfst, ein paar Fenster dazwischen malst und sagst: Da ist das Wohnzimmer, dort schläft man. Hier geht's rein, hier raus. Und das alles kostet 100.000 Mark! Dann kassierst du deine Prozente und rauchst zum Abschluß auch noch eine spendierte Importe. Aber ich?«Er holte tief Luft. Gequält knackte es in der Jacke. Es mußte ein guter Schneider gewesen sein, der sie machte. Vielleicht hatte er die Nähte auch mit Draht gefestigt.»Ich rackere mich ab«, klagte Dr. Portz.»Ich muß tobende Ehemänner beruhigen, weinende Frauen aus Ohnmächten erwecken, auf dem Gericht schmutzige Wäsche waschen, dem Staatsanwalt, er ist ein guter Freund, sagen, daß er dumm ist, ich muß Geschworene überzeugen und Zeugen der Anklage mürbe machen, ich muß aus schwarz weiß und aus weiß mittelgrau machen. Kurz: Ich befinde mich in einem ewigen Krieg gegen alle Welt! Und das alles für die lumpigen Gebühren. Ist das ein Leben?!«
Peter Sacher setzte sich in einen lederbezogenen Sessel und faltete die Hände. Er kannte die Klagen seines Freundes und hatte sich abgewöhnt, ihnen Beachtung zu schenken. Er kannte auch das Bankkonto Dr. Portz' und wußte, daß er gar nichts anderes sein wollte als Rechtsanwalt.
Noch während Portz seine Klagelieder sang, nahm er ein Magazin von dem runden Rauchtisch, blätterte in ihm herum und las eine Kurzgeschichte.
Als sie zu Ende war, war auch Dr. Portz die Luft ausgegangen. Peter Sacher legte das Magazin zurück.
«Fertig?«
«Ja«, keuchte Dr. Portz und rieb sich den Schweiß von der Stirn.
«Dann höre einmal genau zu: Ich werde verreisen.«
«Du Glücklicher.«
«Ich will Ferien machen.«
«Du Nabob!«
«Ich will sogar allein Ferien machen.«
«Ohne Sabine?!«
«Ja.«
«Du Genie!«
«Wie man's nimmt. «Peter nahm eine Zigarre aus dem Kistchen, das auf dem Tisch stand.
Dr. Portz sah es mit Mißbehagen. Die Zigarren waren für die guten Klienten, die Geld einbrachten.
«Kosten achtzig Pfennig«, meinte er.
«Riecht man. «Peter Sacher schnitt die Spitze ab und zündete sie an. Er blies den Rauch gegen die Decke, wie es im ungeschriebenen Ritus der Zigarrenraucher verbrieft ist.»Können wir ernst miteinander reden?«
«Bitte«, antwortete Dr. Portz pikiert.
«Der Vorschlag, getrennt zu verreisen, stammt von Sabine.«
«Du hast eine einmalige Frau«, sagte Dr. Portz ehrlich.
«Abwarten. «Peter hob die Hand.»Die Sache hat einen Haken. Wir werden sechs Wochen getrennt leben. Keiner soll vom anderen wissen, wo er war und was er dort erlebt hat. Am 28. August sollen wir dann wieder zusammenkommen. «Sacher räusperte sich; es war, als müsse er die Worte wie zu harte Knödel ausspucken.»Es kann sein, daß du dann meine Interessen vertreten mußt.«
«Verrückt. «Dr. Portz schüttelte den Kopf und wischte sich mit einem großen Taschentuch über die Stirn.»Nehmt es mir nicht übel, aber ihr benehmt euch wie die Kinder. Vielleicht fehlen euch die. Mit sechs Kindern im Stall hat man andere Sorgen als ihr! Du liebst doch Sabine?«
«Sehr!«
«Und Sabine liebt dich?!«
«Das nehme ich, mit Vorbehalten, an.«
«So! Mit Vorbehalten!«Dr. Portz rieb sich die dicke, rote Nase.»Das hast du in sieben Jahren Ehe noch nicht feststellen können?«
«Das ist es ja, was mir Sorgen macht!«
Peter Sacher starrte auf die weiße, spitze Asche der Zigarre. Vorsichtig schnippte er sie ab. Sie zerfiel in dem großen Aschenbecher in drei Teile. Peter nickte.
«Stimmt.«
«Was stimmt?«
«Es sind drei Dinge, die bei uns zu Asche geworden sind: Idealismus, gegenseitiges Verstehen, Entgegenkommen. Warum das alles so geworden ist? Lieber Ernst, wenn ich das erklären könnte, säße ich jetzt nicht hier. «Er hob hilflos die Hand.»Man sollte es nicht für möglich halten. Ich habe eine schöne Frau.«
«Die hast du wirklich.«»Und ich liebe sie. Das ist keine billige Redensart. Aber irgend etwas ist da zwischen uns, das wie eine Wand ist, wie eine gläserne Wand, durch die wir uns zwar sehen und hören, aber die verhindert, daß wir uns die Hände reichen. Wir haben uns einfach nichts mehr zu sagen.«
Dr. Portz schob ein paar Aktenstücke zur Seite, um Platz für seine breiten Ellenbogen zu bekommen. Auf ihnen lehnte er sich weit vor und starrte Peter Sacher ins Gesicht.
«Willst du einen Rat hören? Den honorarlosen Rat eines erfahrenen Scheidungsanwaltes?«
«Honorarlos ist bei dir immer kritisch.«
«Euch beiden fehlt nur eins: eine Wiege mit einem schreienden Bündel und zweimal täglich Windelwaschen.«
«Danke. «Peter schlug resignierend die Beine übereinander.»Erstens hast du das schon einmal gesagt.«
«Steter Tropfen, mein Lieber!«
«Und zweitens stehen solche Ratschläge in jeder Wochenzeitung unter >Sprich dich aus — Tante Emma antwortet.««
«Hör auf Tante Emma!«meinte Dr. Portz sarkastisch.
«Zu einem schreienden Bündel in der Wiege gehören immer zwei Menschen. Soviel solltest du von Biologie wissen.«
«Zahlenmäßig könntet ihr diese Bedingung erfüllen.«
«Aber auch nur zahlenmäßig!«
Dr. Portz schüttelte wieder den Kopf. Wie kompliziert, dachte er. Da sind nun zwei Menschen, nett, modern, liebenswert. Die Frau, man muß schon poetisch bei Vergleichen werden. Der Mann, ein Kerl, der etwas im Leben erreichte. Durch Können, durch Fleiß. Ein bißchen verrückt ist er ja, aber welcher künstlerische Mensch hat nicht seinen verzeihlichen Spleen? Zwei Menschen also, die sich wie nichts auf der Welt ergänzen müßten, die ein ideales Paar abgeben müßten. Und da kommt einer von ihnen nach sieben Jahren Ehe daher und sagt zerknirscht: Alles war nur eine schillernde, mühsam am Leuchten erhaltene Seifenblase. Nun ist sie zerplatzt, und von der ganzen Schönheit ist nichts zurückgeblieben.