Geary starrte auf die fünfte Welt im Sutrah-System. Neun Lichtminuten von der Sonne und immer noch etwas über vier Lichtstunden von der Flotte entfernt. Er hatte nicht damit gerechnet, sich einer der bewohnten Welten in diesem System widmen zu müssen. Er war nicht davon ausgegangen, dass es einen Aufenthalt geben würde.
Wie es aussah, waren seine Pläne soeben über den Haufen geworfen worden.
Ich hasse diese Zusammenkünfte, dachte Geary wohl schon zum hundertsten Mal, was recht beachtlich war, hatte er bislang doch nur an fünf solchen Treffen teilgenommen. Im Konferenzraum war der Tisch nur wenige Meter lang, aber dank des Komm-Netzes, das die Schiffe der Flotte miteinander verband, und dank der neuesten virtuellen Konferenztechnologie erstreckte sich der Tisch etliche Meter weit. Jeder Sessel war vom Befehlshaber eines der Schiffe besetzt, wobei die hochrangigsten Offiziere ganz vorne auf den ersten Plätzen saßen. Doch Geary musste nur irgendeinen Teilnehmer ansehen, auch wenn der ganz hinten saß, dann rückte der prompt nach vorn, während rechts von ihm alle Angaben eingeblendet wurde, die für eine Identifizierung erforderlich waren.
Hinzu kam, dass diese Konferenzen einem merkwürdigen Rhythmus folgten. Zwar rückte die Flotte während der Besprechungen enger zusammen, aber da die Kommunikation auf Lichtgeschwindigkeit beschränkt war, hingen die am weitesten zurückliegenden Schiffe immer noch zwanzig bis dreißig Sekunden hinterher. Dabei handelte es sich um die kleinsten Schiffe unter Führung jener Commander, die die geringste Erfahrung besaßen und von denen nicht mehr erwartet wurde, als dass sie teilnahmen, lernten und den Mund hielten. Deshalb hatte die von ihnen ausgehende zeitliche Verzögerung die geringste Auswirkung. Doch auch bei den näheren Schiffen konnte zwischen Frage und Antwort eine Pause von mehreren Sekunden klaffen, was die Teilnehmer dazu zwang zu reden, eine Pause einzulegen, weiterzureden und erneut zu pausieren, damit die anderen Zeit und Gelegenheit bekamen, Fragen und Kommentare beizusteuern.
Captain Numos von der Orion betrachtete Geary herablassend, zweifellos machte ihm immer noch sein schwacher Auftritt bei Kaliban zu schaffen, für den er natürlich nicht sich selbst, sondern Geary die Schuld gab. In Numos’ Nähe saß Captain Faresa von der Majestic, die so giftig wie immer dreinblickte. Einen willkommenen Kontrast zu den beiden bildete Captain Duellos von der Courageous, der sich offenbar ganz entspannt, aber mit hellwachem Blick in seinem Sessel zurücklehnte. Captain Tulev von der Leviathan saß steif und starr da und musterte mit abfälliger Miene Numos und Faresa. Ein Stück weiter fand sich die hitzköpfige Commander Cresida von der Furious, die mit breitem Grinsen zu verstehen gab, dass sie sich schon auf den nächsten tatkräftigen Einsatz freute. Nicht weit von ihr entfernt befand sich Colonel Carabali, der die Marines unterstellt waren, ebenfalls eine fähige und zuverlässige Frau.
Captain Desjani, die gleich neben Geary saß, war die Einzige, die außer ihm tatsächlich im Raum anwesend war. Co-Präsidentin Rione hatte darum gebeten, der Besprechung fernzubleiben, aber Geary wusste, dass die Offiziere von den Schiffen der Rift-Föderation und der Callas-Republik ihr ohnehin einen umfassenden Bericht über alles liefern würden, was besprochen wurde. Seine Vermutung war, dass sie auf diesem Weg herausfinden wollte, was er sagte, wenn sie nicht anwesend war.
Geary nickte den versammelten Offizieren knapp zu. »Zunächst einmal möchte ich den Besatzungen der Zerstörer Anelace, Baselard und Mace sowie des Kreuzers Cuirass die letzte Ehre erweisen, die sich nun im Kreis ihrer Vorfahren befinden. Sie alle starben in Erfüllung ihrer Pflicht gegenüber ihrer Heimat und ihren Familien.« Er kam sich ein wenig wie ein Heuchler vor, weil er keine mahnenden Worte anfügte, dass es eben das Verhalten dieser Commander gewesen war, das überhaupt erst die Zerstörung dieser Schiffe bewirkt hatte, doch das schien nicht der richtige Moment dafür zu sein.
»Ist es sicher, dass es keine Überlebenden gibt?«, fragte jemand.
Geary deutete auf den Commander des Zweiten Zerstörergeschwaders, der sich räusperte und dann mit betrübter Miene antwortete: »Wir haben eine gründliche Suche durchgeführt. Die wenigen Rettungskapseln, die wir orten konnten, waren schwer beschädigt und inaktiv.«
Mit rauer Stimme meldete sich Numos zu Wort. »Wir hätten diese Syndik-Jäger verfolgen sollen, um sie dafür bezahlen zu lassen, dass sie diese Schiffe zerstört und deren Besatzungen ermordet haben.«
»Und wie hätten Sie sie stellen wollen?«, hielt Duellos in einem Tonfall dagegen, der keinen Hehl aus seiner Verachtung gegenüber dem Mann machte.
»Natürlich mit einer Verfolgungsjagd bei maximaler Beschleunigung.«
»Selbst der jüngste Offizier in dieser Flotte ist mit den physikalischen Gesetzen gut genug vertraut, um zu wissen, dass man diese Schiffe fast bis zum nächsten Stern verfolgen müsste, um sie einzuholen, und dabei würde nahezu unser ganzer Treibstoff drauf gehen.«
Vorwurfsvoll meldete sich Captain Faresa zu Wort: »Ein Offizier der Allianz sollte nicht schon aufgeben, bevor er es überhaupt versucht hat. ›Strebe nach dem Unmöglichen, und du wirst es erreichen‹.«
Die Art, wie das Zitat vorgetragen wurde, hatte etwas erschreckend Vertrautes an sich. Geary sah zu Captain Desjani, die ihm zunickte und ihre stolze Miene nicht verbergen konnte. Ein weiteres »Zitat« von Black Jack Geary, zweifellos völlig aus dem Zusammenhang gerissen, sofern er das überhaupt jemals gesagt hatte, und dazu missbraucht, Handlungen zu rechtfertigen, die der wahre Black Jack niemals gutgeheißen hätte und die er jetzt erst recht nicht gutheißen konnte. »Ich muss nachschlagen, wann ich das gesagt habe und wie das von mir gemeint war«, gab er dann mit ruhiger Stimme zurück. »Aber ich bin einer Meinung mit Captain Duellos. Eine Verfolgung wäre sinnlos gewesen. Ich muss die Verantwortung für diese Flotte über meinen Wunsch nach Rache stellen, und ich erwarte von jedem Offizier, dass er diese Einstellung teilt.«
»Die Flotte hat sich daran gewöhnt, vom Flaggschiff zu erwarten, dass es sie in die Schlacht führt!«, betonte Faresa, als sei mit diesen Worten irgendetwas bewiesen.
Geary verkniff sich eine bissige Erwiderung. Nur weil sich die Flotte daran gewöhnt hat, Dummheit zu erwarten, muss ich mich deshalb noch lange nicht dumm verhalten.
Aber Desjani antwortete bereits, da sie sich nicht nur von dem Vorwurf an Geary, sondern auch von der indirekten Beleidigung ihres Schiffs in ihrem Stolz getroffen fühlte. »Die Dauntless befand sich im Mittelpunkt der Formation bei Kaliban, also genau dort, wohin der Angriff der Syndiks zielte«, machte sie deutlich.
»Genau«, stimmte Geary ihr zu. Wenn ich allerdings ganz ehrlich sein soll, dann stellte diese Position für die Dauntless den sichersten Platz bei dieser Auseinandersetzung dar. Das sprach er jedoch nicht aus, da er wusste, dass er die Sicherheit des Flaggschiffs gewährleisten musste, bis sie in Allianz-Territorium gelangten, ganz gleich, was die Flottentraditionen verlangten. An Bord der Dauntless befand sich nach wie vor der Hypernet-Schlüssel der Syndiks, was außer ihm selbst und Captain Desjani aber kaum jemand wusste. Selbst wenn er jedes andere Schiff dieser Flotte verlor — der Schlüssel musste der Allianz überbracht werden, weil er ihr einen entscheidenden Vorteil über die Syndiks verschaffen würde. Natürlich beabsichtigte Geary nicht, jedes andere Schiff zu verlieren, wenn es noch irgendeinen anderen Weg gab, um die Dauntless nach Hause zu bringen.
Numos machte den Eindruck, als wolle er noch etwas anfügen, weshalb Geary prompt auf die Darstellung des Sutrah-Systems zeigte, die über dem Konferenztisch schwebte. »Es war nicht vorgesehen, in diesem System einen Zwischenstopp einzulegen, um uns mit den bewohnten Welten zu befassen. Aber wie Sie ja alle wissen, haben wir lernen müssen, dass Pläne sich manchmal ändern können. Wir haben Hinweise darauf entdeckt, dass auf dem fünften Planeten ein Arbeitslager existiert, in dem Gefangene der Allianz sitzen.«