Der Lieutenant, den Geary erwischt hatte, schaute über einen kleinen Hof hinweg zu einer Gebäudegruppe auf der anderen Seite, hinter der mehr von der Stadt zu sehen war, gebaut in der klassischen, zweckmäßigen Zylinderform, die es erlaubte, auf künstliche Schwerkraft zu verzichten.
Etwas blitzte zwischen den Gebäuden auf, und der Lieutenant zog ruckartig den Kopf nach hinten. Splitter flogen durch die Luft, als ein massives Metallgeschoss Mauerwerk absprengte. Geary stellte den Ton lauter, sodass zu hören war, wie das Echo des Schusses nachhallte. Dann ertönte eine dröhnende Stimme: »Dieses Gebiet wird sofort geräumt. Alle Bürger der Syndikatwelten werden aufgefordert, sich auf der Stelle in einen Bereich jenseits der Fünften Straße zurückzuziehen. Wer sich weiterhin auf dieser Seite der Fünften Straße aufhält, wird als feindlicher Kämpfer angesehen und angegriffen.«
Die Aufforderung wurde wiederholt, und Geary konnte aus der Sicht des Lieutenants mitverfolgen, wie Männer, Frauen und Kinder aus den Gebäuden gestürmt kamen und davonliefen. In einiger Entfernung stellte sich ein Mann mit einer Waffe den Flüchtenden in den Weg und machte drohende Gesten, die die Menge anhalten ließen. »Erledigt ihn«, befahl der Lieutenant, dann wurde ganz in der Nähe eine Waffe abgefeuert, und Augenblicke später sank der Mann zuckend zu Boden, als hätte ihn ein heftiger Schlag niedergestreckt. Die Zivilisten stürmten weiter und nahmen keine Notiz von dem reglos daliegenden Mann.
Geary wechselte zu einigen anderen Kameras und bekam überall die gleichen Bilder geliefert. Aus den Gebäuden gegenüber den Marines wurden weiter Schüsse abgefeuert, doch nach der fünfzehnminütigen Schonfrist begannen diese Bauwerke zu explodieren, da die Marines mit schweren Waffen vorgingen. Habe ich das genehmigt? Eigentlich ja, oder?
Es mochte sein, dass in den Gebäuden auch Zivilisten ums Leben kam, doch daran konnte er nun nichts mehr ändern. Allerdings fühlte er sich deswegen nicht besser. Gegen einen Feind zu kämpfen, der ihn immer wieder dazu zu zwingen versuchte, Grausamkeiten gegen Unschuldige zu begehen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Ich tue, was ich tun muss, aber kein bisschen mehr, ihr kaltblütigen Bastarde. Ihr werdet den Tod von Zivilisten weder mir noch meiner Flotte in die Schuhe schieben können.
Es dauerte fast einen Tag, um so viele Lebensmittel und andere Vorräte aus den Lagerhäusern einzuladen und in Shuttles zu den verschiedenen Raumschiffen zu bringen, wie die Allianz-Flotte mitnehmen wollte. Die Allianz-Truppen mussten dabei immer wieder Schüssen von der Planetenoberfläche ausweichen und Gegenschläge ausführen. Keine Waffenbatterie auf dem Planeten konnte irgendwelche Treffer erzielen, und keine überlebte den ersten Schussversuch, und doch schienen immer neue, verborgene Einrichtungen aufzutauchen.
Zwanzig Stunden nach der Ankunft im Orbit der dritten Welt gab Geary den Befehl zum Rückzug und überflog erfreut, aber müde die Liste der ihnen von den Syndiks »überlassenen« Vorräte. Die Orbitalstadt hatte zwar wegen der anhaltenden Kämpfe zwischen den Marines und den Syndik-Spezialeinheiten einige Schäden hinnehmen müssen, doch sie war nun wieder sicher. Bei den Lagerhäusern im Orbit gestaltete sich das jedoch etwas anders. Nachdem Geary bestätigt worden war, dass sich kein Personal mehr dort aufhielt, ordnete er ihre Zerstörung an. Alles, was die Allianz-Schiffe nicht mitnahmen, würde ansonsten von den Syndiks genutzt werden können. Das galt auch für die Lagerhäuser, hätte Geary sie unversehrt gelassen.
Sancere war nicht das einzige System, das die Syndiks mit Kriegsschiffen versorgte. Es gab genügend andere Systeme, die große Schiffe und Heerscharen von kleineren Einheiten fast am laufenden Band produzierten. Dafür wurde auf Ressourcen einer interstellaren Macht zugegriffen, die viele Sternensysteme umfasste. Doch der Verlust der Werften von Sancere würde etwas bewirken, weil die Syndiks wenigstens für eine Weile nicht so schnell ihre Verluste ausgleichen konnten.
»An alle Schiffe: Gut gemacht.« Er gähnte, während er bestätigte, dass die Formation sich zu einer neuen Position außerhalb des Orbits der vierten Welt begab. »Ladies und Gentlemen, ich werde mich jetzt eine Weile schlafen legen.« Desjani verzog den Mund zu einem müden Grinsen, da sie sich gleichfalls bereit machte, die Brücke der Dauntless zu verlassen.
Auf dem Weg zu seiner Kabine überlegte Geary, ob Victoria Rione wohl auf ihn wartete.
»Geary hier.« Er zwinkerte, um den Schlaf aus seinen Augen zu vertreiben, und überprüfte, ob er die Videoübertragung auch abgeschaltet hatte.
»Sie wollten benachrichtigt werden, wenn sich die Formation Bravo vom vierten Planeten zurückzieht, Sir. Wir haben gehört, dass der Rückzug begonnen hat, und wir haben die Bestätigung erhalten, da sich die Schiffe tatsächlich von der Stelle bewegen.«
»Danke«, sagte er und legte sich hin. Er war dankbar dafür, dass es wenigstens einmal eine gute Meldung war, die keine sofortige Reaktion erforderte. Und er wusste damit auch, er könnte für eine Weile aufhören, sich Sorgen wegen der Partikelkanonen zu machen.
»Du weißt, sie merken es, dass du etwas vor ihnen verheimlichst«, hörte er Riones Stimme neben sich.
»Meinst du?«
»Ich weiß es, John. Hast du bislang die Videoübertragung blockiert? Ich glaube kaum. Außerdem redest du mit gedämpfter Stimme. Die werden sich ganz bestimmt längst fragen, wen du nicht aufwecken willst.«
»Verdammt.« Ihre Worte ließen plötzlich Angst in ihm wach werden. »Sie könnten glauben, es ist jemand aus der Flotte.« Eine Offizierin. Oder schlimmer noch: eine Matrosin. Also genau das, was er wegen seiner Autorität unbedingt vermeiden musste.
Rione stützte sich auf den Ellbogen auf und lächelte ihn schmallippig an. »Also muss ich dafür sorgen, dass die Flotte erfährt, mit wem ihr Held in Wahrheit schläft. Ich frage mich, wie eine solche Ankündigung aussehen soll.«
Er zuckte leicht zusammen. »Es war nie meine Absicht gewesen, dich zum öffentlichen Gesprächsthema zu machen. Das sollte etwas Privates sein.«
»Nichts von dem, was dich betrifft, kann jemals privat sein, John. Wenn es dir bislang nicht klar gewesen ist, dann sollte es das ab jetzt sein.«
»Es geht hier um dich, nicht um mich.«
»Willst du etwa meine Ehre verteidigen?«, gab sie sichtlich amüsiert zurück. »Ich bin alt genug, um das selbst zu erledigen. Und für den Fall, dass du dich das fragst: Als ich mich darauf einließ, war mir bewusst, dass daraus ein öffentliches Gesprächsthema entstehen würde.«
Leider erinnerten ihre Worte Geary an seine Überlegungen, Rione könnte sich mehr zu seiner Macht als zu ihm selbst hingezogen fühlen. Doch wenn das tatsächlich der Fall war, würde sie es niemals zugeben. Und wenn es nicht der Fall war, müsste er schon verrückt sein, sie darauf anzusprechen.
»Unsere Beziehung ist weder unangemessen noch illegal«, betonte sie. »Am Morgen werde ich die Befehlshaber der Schiffe der Callas-Republik und der Rift-Föderation informieren. Ich weiß, dass sie in der Vergangenheit auf Gerüchte angesprochen wurden, ob zwischen uns etwas ist, und sie haben stets verneint. Da sich das nun geändert hat, werde ich es ihnen allein schon aus dem Grund sagen, dass das Vertrauensverhältnis nicht gestört wird. Sobald die Commander es wissen, wird es sich mit Überlichtgeschwindigkeit in der gesamten Flotte herumsprechen.«
Unwillkürlich musste Geary seufzen. »Muss die Flotte wirklich davon erfahren?«
»Ja.« Sie sah ihn ernst an. »Und das weißt du auch. Würden wir versuchen, das persönliche Verhältnis zwischen uns zu vertuschen, dann käme der Eindruck auf, dass wir selbst glauben, wir würden etwas Unrechtes tun.«