»Dann müssen wir sie also zwingen, auf Gefechtsgeschwindigkeit zu gehen, und uns ihnen mit einer größeren Streitmacht in den Weg stellen«, folgerte Geary.
»Ich glaube nicht, dass uns das gelingen wird«, meinte Desjani missmutig.
Co-Präsidentin Rione kam um sie herum. »Warum konzentrieren sich Militärs eigentlich immer nur auf eine Alternative?«, fragte sie. Geary sah sie verwundert an. »Wenn Sie wollen, dass die langsamer fliegen, dann müssen Sie ihnen nur ein interessantes Ziel bieten.«
»Ich möchte nicht auf diese Weise irgendwelche Einheiten opfern«, erklärte er, und Desjani nickte bekräftigend.
Rione beugte sich vor. »Sie denken einfach zu ehrlich, Captain Geary. Und Sie ebenfalls, Captain Desjani. Stellen Sie ihnen eine Falle.«
Geary wechselte einen Blick mit Desjani, während er entgegnete: »Was für eine Falle?«
»Ich bin kein Militärexperte, Captain Geary«, sagte Rione. »Aber Ihnen wird doch sicher etwas einfallen.«
Desjani betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Display. »Das könnte funktionieren.«
»Obwohl die Syndiks jede unserer Bewegungen beobachten können?«, fragte er.
»Ja, Sir. Der Trick besteht darin, es nach einer bestimmten Absicht aussehen zu lassen, obwohl wir tatsächlich eine ganz andere Absicht verfolgen.«
»Ja, hervorragend«, stimmte Rione ihr zu. »Spielen Sie dem Feind etwas vor und täuschen Sie ihn über Ihre wahren Absichten hinweg.«
Während er zustimmend nickte, zwang sich Geary zu einer neutralen Miene. Einen solchen Vorschlag aus Riones Mund zu hören hatte etwas Unbehagliches, wenn er gleichzeitig an die Zweifel dachte, die er bezüglich ihrer wahren Motive hegte. »Die Streitmacht, mit der wir sie ködern wollen, kann aber nicht zu schlagkräftig sein, sonst merken die Syndiks das.«
»Ich denke an einen Stern namens Sutrah«, erklärte Desjani bedächtig.
Er schaute sie rätselnd an, doch dann hellte sich seine Miene auf. »Das wäre ausgleichende Gerechtigkeit, nicht wahr?«
Letztlich erforderte es einen immensen Analyseaufwand für die Steuersysteme, eine Flugbahn zu entwickeln, mit der sich Desjanis Plan in die Tat umsetzen ließ. Alle sechs Unterformationen mussten in einem weiten Bogen durch das System fliegen und in einigen Fällen Schiffe austauschen, die eine Zeit lang einem eigenen Kurs folgen würden. Einige Schiffe und Formationen durchquerten dabei bestimmte eingegrenzte Regionen, die von den Syndik-Schiffen am wahrscheinlichsten passiert wurden, wenn man die Flugbewegungen der Allianz-Schiffe berücksichtigte, allen voran die der Formation Gamma. Das alles musste so ablaufen, dass die Syndiks nicht durchschauten, warum die Formationen ausgerechnet diesen Flugbahnen folgten. Gleichzeitig musste ein glaubwürdiges Bild vermittelt werden, dass ein Teil der Flotte den Syndiks in Gefechtsabsicht entgegenflog, während der andere Teil scheinbar weiter die Vorräte im System plünderte. Dabei war es wichtig, die Formation Gamma als ein verlockendes Angriffsziel zu präsentieren und es so aussehen zu lassen, als sei die sich ihrer bedenklichen Position gar nicht bewusst. Die Hoffnung beruhte darauf, dass die Syndiks Kurs auf diese Formation nahmen, um der größeren Streitmacht aus dem Weg zu gehen, die sich weiter vor ihnen versammelte.
Zu Captain Tulevs Schlachtkreuzern hatte sich das Schnelle Hilfsschiff Goblin gesellt, und gemeinsam bildeten sie den Köder, auch wenn es Geary gar nicht gefiel, eines der Hilfsschiffe aufs Spiel zu setzen. »Ohne ein Hilfsschiff in der Formation werden sie den Köder nicht schlucken«, beharrte Desjani, und Geary hatte ihr zähneknirschend zugestimmt.
Jetzt saß er da und betrachtete ausgiebig das komplexe Geflecht aus Flugbahnen, denen seine Schiffe folgen sollten. Dann erteilte er die Freigabe, mit der die Befehle an die Flotte gesendet wurden. »An alle Einheiten: Sie erhalten gleich Ihre Einsatzbefehle. Es ist unabdingbar, dass jede Einheit exakt die erteilten Befehle befolgt.«
Das Ganze war viel zu kompliziert, um jedem Schiffskommandanten zu erklären, was er zu tun hatte. Die detaillierten Anweisungen wurden rausgeschickt, und zu den angegebenen Zeitpunkten setzte sich die Flotte in Bewegung. Während Geary zusah, wie der Plan von den einzelnen Schiffen seiner breit gestreuten Formation mit den jeweiligen Zeitverzögerungen umgesetzt wurde, hatte er Zeit genug, um sich darüber Gedanken zu machen, ob sich auch wirklich jeder an seine Befehle hielt. Einen solchen Plan hätte kein Individuum und nicht mal ein ganzer Kommandostab auf die Beine stellen oder gar ausführen können. Und ohne die immense zahlenmäßige Überlegenheit seiner Flotte wäre dieser Plan überhaupt nicht umsetzbar gewesen.
Nun saß er da und beobachtete, wie seine Schiffe auf Kurs gingen, während die Syndiks weiter in das innere System gerast kamen.
»Du wirst todmüde sein, wenn du bis zum Beginn des Gefechts hierbleibst«, murmelte eine Stimme neben ihm.
Geary drehte sich zu Rione um. »Ich weiß. Aber das Ganze funktioniert nur, wenn jeder genau das macht, was er machen soll.«
»Und wenn das nicht passiert«, gab sie zurück, »wirst du es sowieso erst bemerken, wenn es bereits zu spät ist. Ob du nun zusiehst oder nicht, es wird am Ergebnis nichts ändern.«
Er sah zu Desjani, die in ihrem Kommandosessel ein Nickerchen machte. Geary beneidete sie um diese Fähigkeit. Wieder betrachtete er sein Display. Wenn die Syndiks auf ihrem gegenwärtigen Kurs blieben, würden sie in acht Stunden in Gefechtsreichweite kommen. Wenn sie die Geschwindigkeit reduzierten oder Kurs auf eine andere Formation nahmen, dann sollte es noch mindestens zehn Stunden dauern. Falls sie bereits auf die Formation Gamma zusteuerten, konnte er sogar von zehneinhalb Stunden ausgehen. Rione hat recht. Es wäre dumm von mir, auf der Brücke zu bleiben. »Ich begebe mich für eine Weile nach unten«, ließ er die Wachhabenden wissen. »Informieren Sie mich bitte unverzüglich, wenn ein Schiff von seinem vorgegebenen Kurs abweicht oder wenn sich Veränderungen bei den Syndiks ergeben.«
Er stand auf und schaute Rione an. »Und du?«, fragte er leise.
Während sie über seine Schulter blickte, schüttelte sie den Kopf. »Ich will keinen Gerüchten Vorschub leisten, wie du deine Zeit verbringst, wenn du dich auf ein Gefecht vorbereitest«, erklärte sie sehr leise und sanft. »Du gehst jetzt in deine Kabine und legst dich schlafen. Mach schon.«
»Ja, Madam Co-Präsidentin«, erwiderte er. »Du wirst aber nicht die ganze Zeit hier oben bleiben, oder?«
»Nein. Ich warte noch eine Weile, dann ziehe ich mich in meine Kabine zurück.«
Das würde mit Sicherheit von den zahllosen Augen bemerkt werden, die solche Dinge immer mitbekamen. Er wusste auch, dass sie recht damit hatte und es schlecht aussehen würde, wenn die Flotte den Eindruck bekam, Geary würde sich vor einem Gefecht noch ausgiebig vergnügen. »Okay, dann sehen wir uns später hier wieder.«
Diesmal nickte Rione. »Ich muss gestehen, ich fühle mich zum Teil mitverantwortlich, wenn dieser Plan nicht funktioniert. Immerhin habe ich ihn ja gewissermaßen vorgeschlagen.«
»Richtig, aber ich habe ihm zugestimmt. Die Verantwortung trage nur ich, sonst niemand.«
Sie sah ihm tief in die Augen. »John, es gab Momente, da habe ich mich gefragt, ob ich meinen Gefühlen zu dir hätte nachgeben dürfen oder ob ich auf Distanz hätte bleiben sollen, weil es für die Allianz und mein eigenes langfristiges Glück besser wäre. Aber Aussagen wie diese wischen alle Bedenken weg.«
Es schien keine passende, schlichte Antwort auf diese Bemerkung zu geben, daher nickte Geary nur und lächelte sie an. Dann verließ er die Brücke und begab sich auf einem ausgedehnten Umweg zu seinem Quartier, damit er von der Crew der Dauntless auch gesehen wurde, wie er allein unterwegs war. Hier und da legte er einen Zwischenstopp ein, unterhielt sich mit einigen Besatzungsmitgliedern und wiederholte diese längst vertrauten Sprüche, dass sie ganz bestimmt die Syndiks besiegen und sicher nach Hause zurückkehren würden und wie stolz er war, diese Flotte zu befehligen. Auch wenn es ihm missfiel, die beiden ersten Dinge zu versprechen, die er eigentlich gar nicht versprechen konnte, traf es aber ohne jegliche Vorbehalte zu, dass er wirklich Stolz verspürte. Das Wissen darum würde ihm helfen, ruhig zu schlafen. Als er seine Kabine betrat, stellte er zu seiner Verwunderung fest, wie sehr ihm bereits bewusst war, dass Victoria Rione nicht da war.