Von wachsender Unruhe erfasst, stand Geary schließlich auf. »Ich werde eine Weile durch das Schiff spazieren.« Die Besatzung hielt seine Spaziergänge zweifellos für ein Zeichen, dass er an den Menschen interessiert war, und das traf ja auch grundsätzlich zu. Aber in Augenblicken wie diesen half eine Runde auch, die Nervosität abzubauen und die Zeit bis zum Gefecht totzuschlagen, das nur langsam näher rückte.
Die Crewmitglieder, denen er begegnete, wirkten alle ermüdet von den vielen Tagen Alarmbereitschaft, die Geary im Sancere-System aufrechterhielt, aber sie waren alle gut gelaunt und zuversichtlich. Die hoffnungsvollen und siegessicheren Mienen, die ihm dabei begegneten, stimmten ihn unverändert besorgt, da er wusste, wie fehlbar er war. Wenigstens konnte er sich aber sagen, dass er sie bislang auch nicht nur einmal enttäuscht hatte. Bei seinem Rundgang fielen ihm aber auch einige Crewmitglieder auf, die einen Blick hinter ihn warfen, als ob sie jemanden suchten — bis ihm klar wurde, dass sie nach Co-Präsidentin Rione Ausschau hielten, auch wenn keiner ihn darauf ansprach. Das hatte etwas Beunruhigendes.
Auf seinem Weg kam er auch an der Gedenkstätte für die Vorfahren vorbei und betrat einen der kleinen Räume, wo er zunächst eine Kerze anzündete und ein kurzes Gebet sprach. Die lebenden Sterne wussten, dass er jede Hilfe gebrauchen konnte, die er bekam. Aber so verlockend es auch war, noch zu bleiben und eine Weile zu einem Publikum zu sprechen, dessen er gewiss sein konnte — seinen Vorfahren —, Geary wusste auch, dass er sich nicht hier verstecken konnte, während die Flotte in den Kampf zog.
Mit all diesen Dingen konnte er nicht annähernd genug Zeit totschlagen. Er ließ sich bestätigen, dass sich an der Situation nichts geändert hatte und alle Beteiligten unverändert ihrem Kurs folgten, der die Syndiks in die Minen führen würde. Dann zwang er sich, die Messe aufzusuchen und so zu tun, als würde er etwas essen. Die Mahlzeiten bestanden jetzt größtenteils aus Syndik-Rationen, die sie bei Kaliban und nun auch hier bei Sancere aus den Lagern geholt hatten. Die Matrosen, mit denen er sich unterhielt, waren wie er der Meinung, dass man dem Syndik-Essen zumindest eine gute Eigenschaft zuschreiben konnte: Sie ließen die üblichen Flottenrationen wie Delikatessen erscheinen.
»Wahrscheinlich würden die Syndiks in Scharen zu uns überlaufen, wenn sie von uns etwas Anständiges zu essen bekämen«, meinte eine Matrosin, während sie auf etwas herumkaute, das der Beschriftung nach Haschee sein sollte, das aber aus undefinierbarem Fleisch bestand sowie sehr merkwürdig aussehenden Kartoffeln, die ihrer Struktur und dem Geschmack nach auch Pappklumpen hätten sein können.
Geary kehrte auf die Brücke zurück. Rione war nicht dort, und Desjani schlief wieder in ihrem Sessel. Ein Captain, der so viel Zeit auf der Brücke verbrachte, konnte seine Crew in den Wahnsinn treiben, aber Desjani brüllte ihre Untergebenen nicht an und versuchte auch nicht jeden Handgriff der Wachhabenden zu kontrollieren. Also war ihre Brückenbesatzung von ihrer Anwesenheit auch längst nicht so genervt, wie man hätte annehmen können.
Sie wachte auf, als Geary sich hinsetzte, und nickte ihm zu. »Noch eine Stunde, bis die Syndiks die ersten Minen erreichen. Sie fliegen weiterhin geradewegs darauf zu.«
»Was glauben Sie, wann die anfangen werden zu bremsen?«, fragte Geary.
»In etwa einer halben Stunde. Damit bleibt ihnen nur eine minimale Fehlermarge.« Desjani zeigte auf die voraussichtliche Flugbahn, die auf ihrem Display dargestellt wurde. »Wenn sie zu früh bremsen, verlassen sie den Kurs, der sie zu den Minen führt, aber dann stehen die Chancen viel besser, dass wir sie mit unserer Formation zu packen kriegen. Falls sie aber die Formation Gamma attackieren wollen, dann müssen sie an diesem Punkt ihr Bremsmanöver einleiten.«
Geary lehnte sich zurück und versuchte, sich so gut wie möglich zu entspannen. Um die Zeit zu überbrücken, ging er nochmals die Liste der Vorräte durch, die die Flotte in diesem System an Bord genommen hatte, und überprüfte, wie die Hilfsschiffe mit der Produktion von Ersatzteilen vorankamen. Da die Schiffe bei Sancere zahlreiche Manöver geflogen waren und damit ein entsprechend hoher Verbrauch an Brennstoffzellen festzustellen war, ließ er Captain Tyrosian von der Witch eine kurze Nachricht zukommen, vor allem neue Brennstoffzellen zu produzieren. Sie konnten noch so viele Kartätschen, Minen und Raketen im Waffenarsenal haben, aber sie würden einem nicht helfen, ein Schiff von der Stelle zu bewegen.
Co-Präsidentin Rione kehrte auf die Brücke zurück und betrachtete die Crew, Captain Geary und Captain Desjani auf ihre übliche unbeeindruckte und herausfordernde Weise. Als er ihr grüßend zunickte, wurde Geary bewusst, dass er sie angesichts dieser distanzierten Ausstrahlung wohl niemals versehentlich mit Victoria ansprechen würde, wenn sie auf der Brücke war. Die Co-Präsidentin, die auf dem Beobachterplatz saß, mochte zwar wie die Victoria aussehen, die Gearys Bett teilte, aber ihr Auftreten war so ganz anders, dass sie tatsächlich diese andere Person zu sein schien, die seinen Entscheidungen grundsätzlich mit Misstrauen begegnete. Ich habe sie zwar gebeten, ihre herausfordernde Art beizubehalten, aber mein Gefühl sagt mir, dass sie sich auch so verhalten würde, wenn ich nichts gesagt hätte.
Desjani nickte ihr ebenfalls mit einem Anflug von Freundlichkeit zu. Dass Rione jetzt privat mit Geary verbandelt war, schien sie in Desjanis Augen vertrauenswürdiger zu machen als zuvor. Er vermutete allerdings, dass Rione einer solchen Denkweise nichts abgewinnen konnte, weshalb er es ihr gegenüber auch gar nicht erst zur Sprache bringen würde. Es hätte ihn aber nicht gewundert, wenn sie selbst bereits darauf aufmerksam geworden war, was möglicherweise auch erklärte, warum sie ihm gegenüber offiziell einen so frostigen Ton anschlug. Vielleicht sollte er sie vorläufig noch nicht darauf ansprechen, dass die Crew zu erwarten schien, sie beide zusammen zu sehen. Oder aber sie wollte mit ihm gesehen werden, um aus ihrem Verhältnis ein möglichst öffentliches Spektakel zu machen.
Geary widmete sich für den Augenblick lieber der viel einfacheren Situation, die die Syndik-Flotte und seine fünf Formationen betraf. Sein Display zeigte an, dass alle Schiffe sich inzwischen in voller Gefechtsbereitschaft befanden. Er und Tausende von Offizieren und Matrosen hatten vorläufig nichts weiter zu tun als zuzusehen, wie die Zeit verging, bis der Moment kam, an dem die Syndiks auf die ersten Minen trafen.
Die Syndiks drehten fast genau am vorausgesagten Punkt ihre Schiffe um, sodass die Antriebseinheiten nach vorn zeigten und das Bremsmanöver eingeleitet werden konnte. Ein paar Minuten darauf sah Geary, wie die Formation Gamma geringfügig beschleunigte, damit die Syndiks wieder genau auf den Kurs zurückkehrten, der sie in die Minen führen sollte. Es war denkbar, dass die Syndiks dieses Manöver mit Argwohn beobachteten. Offenbar waren sie aber viel zu sehr darauf fixiert, ihre ins Auge gefassten Ziele zu attackieren, denn im nächsten Moment passten sie ihren Kurs tatsächlich exakt so an, wie die Allianz es gebrauchen konnte.
Fünfzehn weitere Minuten verstrichen. »Da sind sie«, murmelte Desjani.
Die komplexen Manöver der Allianz-Schiffe hatten alle dazu beigetragen, die Falle zu stellen, in die die Syndiks noch während des Bremsmanövers hineinrasen würden. Die Falle bestand jedoch nicht aus einem dicht gestreuten Minenfeld, sondern aus einem Gitternetz aus mehreren Reihen und Linien aus Minen, die im Abstand von mehreren Lichtsekunden entlang der erwarteten Flugbahn verteilt waren. Die Syndik-Schiffe bewegten sich mit dem Heck voran auf diese Minen zu, sodass jeder Treffer die Antriebseinheiten erwischen würde, was genau dem Plan der Allianz entsprach.
Die Syndik-Formation durchflog die ersten beiden Linien, ohne mit einer Mine in Berührung zu kommen. Es war frustrierend, aber die Chancen sprachen eher gegen eine Vielzahl von Treffern. Die dritte Linie war dann jedoch genau richtig platziert.