Asher starrte Grimwood einen Moment lang an, dann knurrte er kehlig und war mit einem Satz auf der Kiste. Warum musste es bei Grimwood bloß immer auf einen Wettstreit hinauslaufen? Er würde es ihm schon zeigen.
Asher ging über die metallene Fläche hin zu der Stelle, an der der glücklose Vampir auf dem Boden lag.
Während er sich ihm näherte, sah er, wie die zweite Schuppenhand zwischen den Stäben hindurchkam und den anderen Fuß seines Opfers packte. Ehe der Vampir Luft holen konnte, um einen Schrei auszustoßen, riss die Kreatur ihn schon mit aller Wucht ins Innere der Kiste.
Asher sprang zurück, als ein blutiger Regen auf ihn niederging. Die Kreatur hatte den Vampir mit solcher Heftigkeit nach unten gerissen, dass der vom Schritt bis zur Schulter von den Gitterstäben in zwei Hälften zerteilt worden war – so wie man mit einem Küchenschneider eine Selleriestange halbierte.
Ein metallischer dumpfer Knall war zu hören, als der Kopf des Vampirs zwischen den Stäben stecken blieb. Aus dem Inneren drang ein ungeduldiges Schnauben, dann wurde der Körper einmal leicht angehoben und so ruckartig nach unten gezogen, dass der Kopf sich vom Rumpf losriss und zum Rand der Kiste rollte. Er fiel herab, wurde auf dem Dock von nichts aufgehalten und traf mit einem leisen Platscher auf dem Wasser auf, ehe er unterging.
Asher zuckte erschrocken zusammen und wich zurück. Er sah zu Grimwood, der wieder eine seiner verfluchten Zigaretten paffte. Seine Miene strahlte unendliche Befriedigung aus. Er pustete den Rauch zu Asher und hob sarkastisch eine Augenbraue. „Sag bloß, du hast vergessen ihn zu füttern?“
Asher wischte sich das Blut vom Gesicht und sprang von der Kiste zurück aufs Dock, während er versuchte, die gierigen, schmatzenden Geräusche zu ignorieren. Mit steifen Schritten ging er zu Grimwood hinüber. Er war zu angewidert, um sich eine passende Antwort zu überlegen. Gemeinsam lehnten sich die beiden Vampire gegen die Kaimauer und betrachteten die Kiste.
„Glaubst du wirklich, dass er es ist?“ unterbrach Asher das lange Schweigen.
Grimwood schnaubte. „Das will ich doch hoffen. Wenn nicht, schläft er heute Nacht in deinem Zimmer.“
Ein Anflug von Lächeln huschte über Ashers Gesicht, dann sah er wieder gedankenverloren die Kiste an. Er holte tief Luft, um sich für das zu stählen, was ihn erwartete. Er konnte nur hoffen, dass Danica wusste, was sie da tat…
Zwölf Stunden später bewegte sich Danica lautlos durch den Korridor der Phoenix Towers, lediglich ihre Absätze verursachten auf dem Marmorboden ein leises Klacken. Ihr Blick war geradeaus gerichtet, die Lippen hatte sie entschlossen zusammengepresst. Im Saal war es dunkel, doch sie benötigte kein Licht.
Sie ging weiter durch den in ultramodernem Design gehaltenen Flur. Die Metallbögen und die in sich verschlungenen Steinsäulen schrien förmlich vor architektonischer Meisterleistung. Geschrien hatte auch der Architekt selbst, als seine Klienten – die Vampire waren – keine weitere Verwendung für ihn mehr hatten.
Es gab keine Fenster und so war nicht möglich zu erkennen, ob draußen Tag oder Nacht war. Die einzige Lichtquelle waren schalenförmige, verchromte Lampen, die an geflochtenen Stahlseilen von der Decke herabhingen und die auf dem dunklen Boden in regelmäßigen Abständen helle Flächen bildeten.
Danica folgte eine zarte Parfümwolke wie ein edler Seidenschal. Sie hatte zuvor gut eine Stunde in ihrem luxuriösen Badezimmer verbracht, ihr glänzendes schwarzes Haar frisiert und dezentes Make-up auf ihre perfekt geformten Wangenknochen aufgetragen. Sie strahlte Unnahbarkeit und Professionalität aus.
In ihrer machtvollen Position als Botschafterin ihrer ganzen Rasse war es nur angemessen, wenn sie gut vorbereitet auftrat. Es war nur eine Schande, dass sie sich an ihrer letzten Zigarette verbrannt hatte. Ihre zitternden Finger hatten sie im Stich gelassen, als sie auf dem Balkon rasch noch eine hatte rauchen wollen, um ihre Nerven zu beruhigen.
Danica strich im Gehen ihre maßgeschneiderte Kleidung glatt und versuchte, die für sie typische Aura aus Selbstsicherheit und Arroganz herzustellen. Das hier sollte nicht schwieriger sein als jenes Dutzend Gespräche, die sie tagtäglich führte. Es war eine völlig schnörkellose Prozedur. Sie hatte ihre Absichten, und sie hatte ihr Gefängnis… obwohl… nein, ihr Gesprächspartner hatte das Gefängnis für sich in Beschlag genommen. Danicas Job bestand darin, sicherzustellen, dass ihre beiden Standpunkte deckungsgleich waren.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dies ein Treffen von einem ganz anderen Kaliber war, und obwohl sie sich sonst so rigoros im Griff hatte, merkte Danica, wie sie schwitzte.
Am Ende des Korridors angekommen, nickte sie den beeindruckend aussehenden Soldaten zu, die in der Nähe Wache schoben und ihre automatischen Waffen im Anschlag hielten. Ein paar Meter daneben standen Asher, Grimwood und eine junge Vampirin namens Virago schweigend vor der gewaltigen Titaniumtür der Gruft und warteten auf sie.
Wenn es für einen Vampir überhaupt möglich war, nervös auszusehen, waren die drei ein Musterbeispiel für diesen Zustand.
Danica gesellte sich zu dem Trio und nickte knapp, dann sah sie zu dem großen Videobildschirm hinüber, der ein Thermobild aus dem Inneren der Gruft zeigte. Der immens große Raum lag in völliger Dunkelheit da, doch dank der Spezialkamera war es möglich, eine schattenhafte Figur zu erkennen, die in einer Ecke des Raums kauerte. Danica fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen, die auf einmal trocken waren, dann sah sie ihren Bruder Asher eindringlich an. „Was macht er?“
„Nichts“, erwiderte Asher, ohne seine dunklen Augen von dem Monitor abzuwenden. „Er sitzt einfach nur da, seit wir ihn hergebracht haben.“
Virago räusperte sich und fragte: „Glaubst du, unsere Sicherheitsvorkehrungen genügen?“ Es gelang der hübschen jungen Vampirin nicht, das Zittern ihrer Stimme zu überspielen. Dann verfiel sie wieder in ein unbehagliches Schweigen.
Danica sah weiter auf den Bildschirm. „Virago, wenn er hätte ausbrechen wollen, dann würde uns keine Armee der Welt schützen können.“ Sie erhöhte den Kontrast des Bildes, damit es etwas schärfer wurde. „Wir haben ihn nicht gefangen, sondern er hat es erlaubt, dass wir ihn herbringen.“ Sie atmete tief ein, während sie ihre Worte wirken ließ. „Hast du verstanden?“
Es kam keine Antwort, dafür schien die Luft eine Spur kälter zu werden.
Danica deutete mit einem Kopfnicken auf die Tür und wappnete sich. „Jetzt mach auf.“
Die anderen Vampire starrten sie ungläubig an, da sie es nicht für möglich gehalten hatten, dass sie ihren Plan durchziehen wollte. Asher blickte seine Schwester an. Sein Gesicht verriet große Sorge. Doch Danica schien völlig entspannt zu sein. Zwar hatte er vorgeschlagen, dass vielleicht Grimwood als Erster hineingehen sollte, um mit ihrem Gast Kontakt aufzunehmen, doch sie hatte offenbar kein Wort davon mitbekommen.
Andererseits war das für ihn auch nichts Neues.
Nach einem winzigen Zögern streckte Danica den Arm aus und legte ihre manikürte Hand auf den biometrischen Scanner neben der Tür. Nachdem sie mit den anderen nervöse Blicke ausgetauscht hatte, trat Virago an die Computerkonsole und tippte rasch eine Reihe von Befehlen ein. Das Surren verborgener Maschinen war zu hören, während sich die erste Tür zur Gruft mit einem leisen Summen öffnete und den Blick in eine Art Luftschleuse freigab, die auf einem Raumschiff keineswegs deplaziert gewirkt hätte.
Danica trat ein, dann betätigte Virago eine zweite Taste. Sofort schloss sich die Tür hinter ihr wieder.
Alleine im Vorraum, verschwand Danicas gespielte Gelassenheit mit einem Schlag. Sie blickte zu Boden und atmete zitternd ein, um ihre Nerven zu beruhigen. Mehrere Düsen nahmen ihre Arbeit auf, ließen die Luft in der Schleuse zirkulieren und wehten ihr einen kalten Hauch in den Nacken. Hinter ihr schoben sich Riegel zurück in den Rahmen, und als ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief, wusste sie, dass es mit der Klimaanlage nichts zu tun hatte. Dies war der Moment, von dem sie drei Jahre lang geträumt hatte – auch in ihren Alpträumen. Endlich erfüllten sich nun alle Pläne und Träume.