Cumberland tippte etwas auf seiner Tastatur ein, die gleich neben dem Fernseher stand, dann begann der Computer mit der Aufzeichnung, bei der das Video als eine Reihe von Standbildern aufgenommen wurde. Die wurden allerdings in so kurzen Abständen gespeichert, dass sie beim Abspielen wie eine rasend schnelle Diavorführung wirkten. Die Bilder waren etwas grobkörnig, der Unbekannte hatte aus relativ großer Höhe und Entfernung mit einem für Nachtaufnahmen geeigneten Camcorder gefilmt. Aber Cumberland konnte deutlich erkennen, was sich unten abgespielt hatte. Wachsam betrachtete er die Bilder, während er von einer heftigen Erregung erfasst wurde. Wenn dieser Bericht zutreffend war, dann würde er sich um seine Karriere nie wieder Sorgen machen müssen.
Während die Meldung mitgeschnitten wurde, wandte der Detective seinen Blick vom Bildschirm ab und sah sich in seinem Büro um, das beengt und restlos vollgestellt war und dem es an jeder persönlichen Note fehlte – allerdings auch an jeglichem Bemühen, es sauber zu halten. Zahllose Ausdrucke quollen aus Dutzenden von Kartons, mit denen jede noch so kleine Fläche und jede Ecke vollgepackt worden war. An der Schreibtischkante stapelten sich zehn oder mehr benutzte Kaffeebecher bedenklich nah am Rand. Ihr Platz wurde ihnen von ganzen Stößen Eingangspost streitig gemacht, für die der Postkorb längst viel zu klein geworden war. An den Schränken hingen selbstentworfene Karten, die in leuchtenden Farben seine wöchentlichen Ermittlungsfortschritte aufzeigten. Eine Pinnwand verschwand nahezu vollständig unter Überwachungsfotos und Zeitungsausschnitten über seine Verdächtigen.
Cumberland verspürte ein Gefühl der Hoffnung. Zwar waren die meisten Fotos verschwommen und so undeutlich wie die Schnappschüsse, die das Ungeheuer von Loch Ness zeigten, doch diesmal war er auf eine Goldader gestoßen.
Endlich hatte er etwas Greifbares, mit dem er arbeiten konnte.
Die Nachrichtensendung widmete sich so wie alles, was sich in diesem Büro befand, seinem laufenden Fall, an dem jeder andere Agent im Haus bislang gescheitert war. Es war eine Sache, in den Cumberland inzwischen einige Jahre seines Berufslebens investiert hatte. Auch wenn er es niemals zugeben würde: Der Wunsch, die gefährlichen Kriminellen Blade und Whistler zu fassen, war längst zu einer fixen Idee für ihn geworden. Ihm war bewusst, dass man im Haus deshalb hinter seinem Rücken über ihn lachte, doch das kümmerte ihn nicht.
Umso schöner würde es sein, wenn er die beiden endlich präsentieren konnte.
„Ray! Ich höre, es gibt eine Spur!“
Cumberland rieb sich die Augen, als Wilson Haie aufgeregt ins Büro gestürmt kam. Der junge Haie war vor nicht mal drei Monaten dem Fall zugeteilt worden, aber er ging Cumberland schon jetzt auf die Nerven.
Er sah zu, wie Haie die Pinnwand absuchte und dann ein unscharfes Bild von Whistler herunterriss, das von einer Überwachungskamera auf der Straße aufgenommen worden war. Dabei lösten sich eine Reihe wichtiger Ausdrucke, die herabfielen und in einer Tasse mit abgestandenem, kaltem Kaffee landeten, die am Rand des Schreibtischs vergessen worden war.
Cumberland schloss kurz die Augen, sprach stumm einen Wunsch aus und sah wieder auf. Zu seiner Enttäuschung stand Haie noch immer vor ihm. Wäre er ein Hund gewesen, hätte er jetzt sicher mit dem Schwanz gewedelt.
Während er seinen Computer herunterfuhr, ergab sich Cumberland in sein Schicksal. „Reservier uns ein Taxi, Haie. Es wird Zeit, diesen Cowboys das Handwerk zu legen.“
Ein kalter Wind pfiff über das Wasser, als Blade seinen mitgenommenen Charger neben einem verfallenen Bootshaus unten am Fluss anhielt. Es war mitten in der Nacht, und am Himmel stand ein bleicher Vollmond, der die Landschaft in ein geisterhaftes Licht tauchte. Im Gebüsch zirpte eine Grille, während Blade den Motor abstellte, ausstieg und leise die Tür zudrückte.
Einen Moment blieb er am grasbewachsenen Ufer stehen und nahm die Stille der Nacht in sich auf. Die Nachtluft war erfüllt von den Geräuschen der Natur, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte, die noch so winzig erscheinen mochten, aber für das Gesamte von großer Bedeutung waren. Der Wind peitschte das Wasser so, dass es schaumgekrönte Wellen schlug. Abfall aller Art wurde gegen das Schilf gespült, wo er sich nach und nach ansammelte.
Blade legte eine Hand auf die warme Motorhaube des Charger und atmete tief durch. Er sog den schwachen, aber stechenden Geruch des Salzwassers ein, der vom Meer herübergeweht wurde. Der Wind fuhr durch sein kurzgeschnittenes Haar, und er schloss einen Moment lang die Augen, um sich für das zu wappnen, was ihn erwartete.
Dann drehte er sich um und sah zum Bootshaus.
Das Gebäude lag in völliger Dunkelheit da, doch Blades extrem scharfe Sinne nahmen den Geruch eines Zigarettenstummels wahr, der im Gras lag und dessen fast erloschene Glut auf ihn wie ein winziges Leuchtfeuer in der Nacht wirkte. Als er genauer hinsah, entdeckte er mehrere gelbliche Lichtpunkte, die sich ihren Weg durch die vernagelte Tür bahnten.
Blade nahm sich vor, Whistler zu sagen, er solle morgen aus dem Baumarkt Teerfarbe holen, um diese Lücken zu schließen. Es musste nicht sein, dass ihre Tarnung aufflog, nur weil ein neugieriger Spaziergänger – oder schlimmer noch: ein Polizist – das entdeckte, was ihm aufgefallen war.
Allerdings war Whistler nach Blades kleinem Schauspiel am Abend wohl nicht in der Laune, ihm zuzuhören…
Blade warf einen gequälten Blick zu den verdunkelten Fenstern, dann zog er seine Lederjacke etwas enger um sich und ging langsam den morastigen Weg entlang, der zum Hintereingang führte.
Das vollgestellte Bootshaus wurde im Innern von leistungsstarken UV-Strahlern ausgeleuchtet. Ihre Helligkeit bildete einen krassen Gegensatz zur Dunkelheit und Abgeschiedenheit draußen. Blade zog seine Jacke aus und hängte sie an die behelfsmäßige Garderobe gleich neben dem Eingang.
Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und suchte nach Lebenszeichen. Es war kalt und es roch intensiv nach 01. Ringsum an den Wänden standen Maschinen, die an industrielle Anlagen erinnerten. Zwischen ihnen hingen Halterungen – mal für High-Tech-Geräte, mal für altmodische Waffen – an der Wand. Über der Tür war eine Dartscheibe angebracht und auf dem Boden war eine Mischung aus billigen Holzresten und Spanplatten verlegt worden. Gemahlener Schotter füllte die Lücken dazwischen. Auf einer Werkbank stand ein Ghettoblaster, der aus den achtziger Jahren zu stammen schien, inmitten von einem Haufen zerkratzter CDs.
Hier herrschte das Chaos, doch für Blade war dies das Einzige, was er auch nur annähernd als sein Zuhause bezeichnen konnte.
Während er sich verstohlen umsah, ging er hinüber zu einer Werkbank und begann, seine Kevlarschutzkleidung auszuziehen. Das Labor schien verlassen, und Blade hoffte darauf, dass Whistler sich zu einem seiner nächtlichen Spaziergänge zum nächsten 7-Eleven entschlossen hatte. Er würde wirklich gern erst einmal einen starken Kaffee trinken und sich eine Weile ausruhen, ehe er…
„Was zum Teufel ist da heute Abend passiert?“
Blade zuckte innerlich zusammen, während er sich weiter Stück für Stück seiner kugelsicheren Kleidung entledigte und dabei stur geradeaus sah. Er wählte seine Worte sehr sorgfältig, während er sich bemühte, gelassen zu klingen. „Woher sollte ich wissen, dass er ein Mensch war?“
Whistler kam durch die Tür hinter Blade und warf seinem jungen Schützling einen finsteren Blick zu. Die Falten in seinem gegerbten Gesicht wurden einen Augenblick lang tiefer, während er die Lippen schürzte und Blade beobachtete, als der die Gurte löste, mit denen seine Körperpanzerung festgehalten wurde. Glasscherben der Windschutzscheibe fielen klirrend zu Boden.
Blade spürte Whistlers stechenden Blick, begann aber scheinbar gleichgültig, seinen Patronengurt mit neuen Silberpflöcken zu bestücken. Er vertiefte sich bewusst in seine Arbeit, da er hoffte, dass Whistler das Thema wechseln würde. Auf einen Streit konnte er jetzt nur zu gut verzichten. Blade fiel auf, dass Whistler noch kein Wort über den Zustand des Charger hatte fallen lassen. Er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Der alte Mann musste verdammt sauer sein, und er war der einzige Mensch auf der Welt, der Blade spüren lassen konnte, was es hieß, ihn wütend zu machen.