Danica betrachtete einen Moment lang den Monitor, ihre Lippen bewegten sich, doch kein Laut war zu hören. Dann drehte sie sich um und fuhr mit den Fingern an der Wand entlang, bis sie den achten Mauerstein erreicht hatte. Sie legte ihre Hand, die nach wie vor in einem Handschuh steckte, auf den kalten Stein und drückte. Ein gedämpftes Rasseln war von der anderen Seite der Mauer zu hören, als sich verborgene Gegengewichte in Bewegung setzten. Im nächsten Moment entstand – von einem lauten Ächzen begleitet – vor Danica im Boden eine Öffnung.
Der Blick auf eine steinerne Treppe wurde freigegeben, die hinunter in die Dunkelheit führte.
Hinter ihrem Visier kniff Danica die Augen zusammen, während sie einen Schritt nach vorn trat. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, sie hatte den geheimen Eingang gefunden! Die monatelange Planung begann sich endlich auszuzahlen.
Sie warf einen verstohlenen Blick zu den anderen, die ein Stück hinter ihr standen und wie gebannt auf die freigelegte Treppe starrten. In den Monaten, die dieser kleinen Expedition vorausgegangen waren, war der Rest des Teams allmählich skeptisch geworden, ob sie überhaupt irgend etwas finden würden. Zwar hatten sie sich nicht gegen Danicas Vorhaben ausgesprochen, allerdings blieb ihnen ohnehin keine andere Wahl.
Doch Danica wusste, dass sie hinter ihrem Rücken tuschelten, an ihr zweifelten und sich vielleicht sogar darüber amüsierten, weil sie an das glaubte, was sie tat. Sie konnte ihnen ihre Skepsis nicht verübeln. Anfangs war es ihr selbst nicht anders ergangen. Die gesamte Mission fußte nur auf Indizien, auf Klatsch und Tratsch, auf Vermutungen und guten alten Gerüchten, die aus allen Ecken der Erde zusammengetragen worden waren.
Doch Danicas Glaube war stark genug gewesen, um die Mission durchzuziehen, und nun standen sie da, vielleicht noch zehn Minuten von ihrem Ziel entfernt – einem Ziel, das Danica fast drei Jahre lang zielstrebig verfolgt hatte.
Erlösung.
Sie nahm ihren Laptop und ging los, wobei sie den anderen bedeutete, ihr zu folgen. Vorsichtig befolgte das Team ihre Anweisung, als sie sich nach unten in die Finsternis begab.
In dem Raum unter ihnen war es erheblich dunkler. Das diffuse Sonnenlicht, das von oben in die Pyramide fiel, drang kaum noch bis dort unten vor. Es schien sogar so, als würde es vor dem tausend Jahre alten Staub und dem schwachen Geruch von Zerfall zurückschrecken, der einem den Atem nahm und alles zu durchdringen schien.
Grimwood, das größte und imposanteste Mitglied des Teams, holte eine Taschenlampe hervor und schaltete sie ein. Der gelbliche Lichtkegel erhellte einen kleinen Raum aus Sandstein, dessen Boden aus nackter Erde bestand und der für die Gruppe mitsamt ihrer Ausrüstung nur mit Mühe Platz bot. Langsam leuchtete Grimwood einmal in jeden Winkel der Kammer, ehe er die Lampe auf die Wände des Grabgewölbes richtete. Die waren von der Decke bis zum Boden mit einer alten Schrift bedeckt, die mit großer Präzision in den nackten Stein gehauen worden war.
Davon abgesehen war das Grab leer.
„Na wunderbar. Es ist überhaupt nichts da.“ Grimwood drehte sich zu den anderen um und sagte verächtlich: „Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, warum wir diesen Scheißausflug am Tag machen mussten?“
Danica nahm schwungvoll ihren Helm ab und blickte um sich, um die Situation zu beurteilen. Selbst in dem trüben Lichtschein war ihre ungewöhnliche Schönheit offensichtlich, was auch für die Ehrerbietung galt, mit der die anderen ihr begegneten. Ihr ruhiges Auftreten und die königliche Aura, die sie umgab, ließen sofort erkennen, dass sie die Anführerin der Gruppe war. Sie sprach, ohne aufzublicken, und konzentrierte sich vielmehr um die Details des Raums, um sie mit dem abzustimmen, was ihr Laptop zeigte. „Nachts ist es zu gefährlich, Grimwood. Das weißt du.“
Auch die anderen nahmen nun ihre Helme ab und sahen sich um. Ihre Gesichter waren zwar attraktiv, dennoch wirkten sie wie das Werk eines Künstlers, dem man ein menschliches Antlitz sehr detailliert beschrieben hatte, dem aber noch nie eines in natura unter die Augen gekommen war. Die Gesichtszüge waren eine Spur zu langgezogen, die Wangenknochen traten etwas zu stark hervor und ihre Kiefer waren ein wenig zu kantig geraten. Drei Augenpaare blitzten in der Dunkelheit auf, als würden sie von innen heraus in einem gelblichen Schein leuchten. Die Fingernägel waren zu spitz, und die Zähne waren zu scharf, als dass es sich bei der Gruppe um normale Menschen handeln konnte.
Tatsächlich handelte es sich überhaupt nicht um Menschen, sondern um Vampire. Und hier, mitten in der glutheißen Wüste, waren sie äußerst nervös.
Grimwood wandte sich von den anderen ab und betrachtete die kantige Schrift, die in die Wände geritzt worden war. Mit einem fleischigen Finger berührte er sie. „Was ist das? Haben da Hühner rumgekratzt?“
Danica sah von ihrem Computer auf. „Keilschrift. Rund viertausend Jahre alt.“
Trotz der Ungeduld des großen Mannes ließ ihn diese Antwort einen Moment lang innehalten. Mit der Zunge fuhr er an seinen Zähnen entlang, über die Stahlkappen gestülpt waren. Dann machte er eine ausholende Geste und sprach die Frage aus, die ihnen allen auf der Zunge lag. „Und warum hier?“
„Weil dies hier die Wiege der Zivilisation war“, antwortete Danica mit sanfter Stimme. Ihre Finger spielten mit dem kleinen stählernen Kruzifix, das um ihren Hals hing. Ihre Miene hatte einen sehnsüchtigen Ausdruck. „Er hätte sich hier wohlgefühlt.“
Asher, ein anderer aus dem Team, stellte sich zu Danica. Die Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge verriet, dass er mit ihr verwandt war. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich weiß nicht, Dan. Mir kommt es vor wie eine weitere Sackgasse.“
Das vierte Mitglied der Gruppe meldete sich zu Wort. „Ich bin mir nicht so sicher…“
Wolfe sprach zwar mit leiser Stimme, zog aber sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich. In der eintretenden Stille widmete er sich dem tragbaren Radar, der nahe dem Mittelpunkt der Kammer auf dem Boden stand. Wolfe sah mit aufgeregter Miene auf. „Unter uns ist etwas.“
Die anderen scharten sich um das flackernde Display, während Wolfe den Monitor einstellte, indem er die Knöpfe mal in die eine, mal in die andere Richtung drehte. Allmählich zeichnete sich im statischen Rauschen ein Bild ab. Ein Querschnitt der Topographie unter dem Boden wurde erkennbar, der zeigte, dass irgend etwas Großes nur einen oder zwei Meter unter ihnen im Sand vergraben lag.
Irgend etwas.
„Ist das ein Leichnam?“
Ashers Stimme klang nervöser, als es ihm Recht war. Grimwood verzog den Mund und sah ihn spöttisch an, woraufhin Asher frustriert die Kiefer zusammenpresste. Er wollte absolut nicht hier sein, und es war ihm egal, wer dies mitbekam. Zum Teufel mit der Mission! Er wollte nur hier raus, und das so schnell wie möglich. Als Vampir machte es ihm nichts aus, sich im Untergrund zu bewegen, doch diese unterirdische Todesgruft löste bei ihm Klaustrophobie aus. Angst lag in der Luft, sehr große Angst, und ein Kribbeln im Nacken verriet ihm, dass hier schlimme Dinge geschehen waren – und dass er besser verschwinden sollte, solange es noch ging.
Asher verkniff sich seine Bedenken und trat nach vorn, wobei er wachsam zusah, wie Wolfe noch eine Einstellung am Radar vornahm. Dann wurde das Bild allmählich scharf.
Es war eindeutig ein Leichnam.
Das Team war von diesem Anblick so sehr gefesselt, dass sie alle das Geräusch von sich bewegenden Gegengewichten erst bemerkten, als es bereits zu spät war. Mit einem Sirren spannten sich ganze Reihen von Seilen, die an der steinernen Decke entlang verliefen. Ein gewaltiger Block fiel auf der anderen Seite der Wand mit einem lauten Knirschen zu Boden und ließ eine Steinplatte auf die Treppe niedergehen. Der Ausgang war versperrt.
„Was zum Teufel soll das?“
Grimwood war mit einem Satz an der Steinplatte, hämmerte mit der Faust darauf herum und versuchte dann mit roher Gewalt, sie mit der Schulter wegzudrücken. Es half nichts. Der Stein war massiv und wog sicher eine halbe Tonne.