Sie saßen in der Falle.
Asher beendete zuerst das entsetzte Schweigen. „Fordere Verstärkung an. Sie sollen versuchen, den Zugang von außen freizu…“
„He, Leute…“, unterbrach ihn Wolfe und zeigte mit zitternder Hand auf den Boden. Dort hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet. Sand verschwand dort so gleichmäßig, als ob Wasser aus einer Badewanne lief. Wolfe stellte den Radar ab und kniete sich vorsichtig neben dem Loch hin. Er versuchte zu erkennen, wohin der Sand verschwand. Öffnete sich dort womöglich ein Fluchttunnel?
Der Sand rutschte umso schneller nach, je größer das Loch wurde, bis es schließlich so aussah, als habe sich im Boden ein kleiner Strudel gebildet. Inzwischen hatte das Loch bereits einen Durchmesser von gut dreißig Zentimetern erreicht.
Wie hypnotisiert beugte sich Wolfe weiter vor…
Plötzlich schien der Boden zu explodieren.
Ehe einer aus dem Team reagieren konnte, schoß eine gepanzerte Klauenhand aus dem Sand und packte Wolfe an der Kehle. Einen Moment lang hielt sie ihn einfach nur fest, dann drückte sie zu. Das Knirschen von Knorpel wurde von den Wänden der Kammer zurückgeworfen, als die Hand sich plötzlich wieder nach unten bewegte und Wolfe so heftig tief in den Sand gerissen wurde, dass nichts ihn hätte zurückhalten können. Eines seiner Beine zuckte, als Wolfe im Boden verschwand, traf die batteriebetriebene Laterne, die umkippte und erlosch.
Das Grab war in völlige Dunkelheit gehüllt.
Brüllend eilten Asher und Grimwood zu Wolfe und tasteten blindlings umher, bis sie seine Knöchel zu fassen bekamen. Sie zogen mit vereinten Kräften, um ihren Kameraden zu befreien, doch sie schafften es nicht, Wolfe auch nur ein Stück weit zurückzuzerren. Es war, als würden sie versuchen, ein Schwert aus einem massiven Fels zu ziehen.
Die Lampe ging wieder an, flackerte aber unablässig, da immer wieder Sandkörner die Kontakte unterbrachen. Viel Zeit blieb ihnen nicht, bis die Lampe wieder ausgehen und diesmal endgültig dunkel bleiben würde.
Wolfe strampelte heftig, riss sich aus Ashers Griff los und trat ihm mit solcher Wucht gegen die Brust, dass er durch die Luft geschleudert wurde. Der junge Vampir krachte mit dem Kopf gegen die Decke und fiel bewusstlos zu Boden.
Danica nahm seinen Platz neben Wolfe ein, bekam sein Bein zu fassen und zog mit aller Kraft. Der Sand schien sich im Schein bläulicher Blitze der flackernden Lampe unter ihren Füßen zu winden. Dunkle Schemen zuckten über den Boden, die wie Haie im Meer oder wie etwas noch viel Schlimmeres wirkten…
Zu ihrer Überraschung gelang es ihnen auf einmal, Wolfe wieder hochzuziehen.
Bis auf seinen Kopf.
Während Danica Wolfes kopflosen Körper mit einem tonlosen Entsetzensschrei zu Boden fallen ließ, schoss eine hellrote Blutfontäne aus dem Boden, verfärbte den Sand und spritzte bis an die Wände, so dass die Inschriften wie kantige schwarze Insekten umherzukriechen schienen.
Etwas bewegte sich durch den Sand nach oben, etwas Großes und Bestialisches, das aber eindeutig humanoide Form besaß. Es bäumte sich auf und zuckte, während es sich aus dem Boden erhob. Kraftvolle Muskeln spannten sich an, als sich das Ding nach oben durchkämpfte. Das flackernde Licht der Lampe beleuchtete die Bewegungen wie einen Alptraum, der in einzelnen Sequenzen ablief.
Ehe einer aus der Gruppe irgend etwas tun konnte, schoss eine abscheuliche, mit Panzerplatten bedeckte Kreatur aus dem blutigen Sand empor, warf den Kopf in den Nacken und stieß ein triumphierendes Gebrüll aus, als habe es sich soeben aus den Eingeweiden der Hölle befreit. Die untere Gesichtshälfte der Kreatur war mit einer blutroten Stammesmaske bedeckt, über den muskulösen Körper zogen sich wellenförmig lange, spitze Auswüchse, die wie lebende Dornen aus der gepanzerten Haut schossen.
Das Geschöpf schüttelte den restlichen Sand ab, warf mit der Schnelligkeit einer Klapperschlange den Kopf herum und starrte die Gruppe mit einem hasserfüllten Blick an. Es öffnete sein ebenfalls gepanzertes Maul und schrie ihnen ein furchtbares Heulen entgegen, während lange, gekrümmte Reißzähne sichtbar wurden, an denen frisches blutiges Fleisch klebte.
Dann erlosch die Laterne endgültig.
1
Es war eine ruhige Nacht im Schlachthausbezirk gewesen, bis das Gebäude explodierte.
Möwen flogen kreischend auf, als eine gewaltige Explosion die heruntergekommene Fabrik erschütterte. Weiße Flammen schossen aus den Fenstern und schlugen zum Himmel empor. Die Erde schien zu beben, als die Druckwelle wie ein feuriger Tsunami nach außen drängte und ganze Reihen von verstärkten Fensterscheiben in einen Regen aus glänzenden Scherben verwandelte. Öliger schwarzer Rauch folgte den Flammen, während die alten Ziegelsteinmauern unter der extremen Hitze nachgaben und als Schutt auf den Fußweg vor dem Gebäude niederregneten.
Nur Augenblicke später erfolgte eine zweite Explosion. Ein schreiender brennender Mann wurde von ihrer Wucht aus einem Fenster geschleudert und wirbelte wie ein menschlicher Komet mit feurigem Schweif durch den Nachthimmel. Ein Stück unter ihm flog die Fabriktür auf und wurde in ihren Angeln zurückgeworfen, nachdem sie den Blick auf das Inferno im Inneren des Gebäudes freigegeben hatte. Die kalte Luft war erfüllt von Schreien und lautem Getrampel, als etliche Männer aus der Fabrik stürmten, von denen die meisten ebenfalls Feuer gefangen hatten.
Es herrschte ein totales Chaos.
Dann teilten sich die Flammen für den Bruchteil eines Augenblicks, und ein kraftvoll wirkender Afroamerikaner trat seelenruhig aus der Feuersbrunst hervor, als könne ihm die Hitze nichts anhaben. Er war groß und sehr muskulös, und seine beeindruckende Silhouette ließ ein ganzes Arsenal an High-Tech-Waffen erkennen. Die züngelnden Flammen spiegelten sich in seiner Designersonnenbrille, als er das Inferno hinter sich ließ. Seine schweren Schritte übertönten das laute Knistern des Feuers und klangen so, als würden die Verdammten im gleichen Takt ihre Trommeln schlagen.
Der Name dieses Mannes war Blade, und für ihn hatte der Spaß erst angefangen.
Bei seinem Anblick liefen die meisten der Entkommenen noch schneller in die von dichtem Qualm erfüllte Nacht. Doch an ihnen war Blade nicht interessiert. Sein Blick war längst auf eine viel bessere Beute gerichtet – eine kleine Gruppe von Gestalten, die in die entgegengesetzte Richtung davoneilten.
Sie waren ihm wichtiger, denn… sie waren Vampire.
Blade lächelte gemein und zog seine Waffe. Er wusste, dass eine Jagd immer von einer Reihe von Regeln bestimmt wurde. Die erste Regel war die offensichtlichste: Lass dich nicht schnappen.
Die Vampirgang rannte über den Parkplatz vor ihm und schien alles daranzusetzen, diese Regel zu befolgen. Ihre Stiefel rutschten auf dem nassen Asphalt, während sie über das Grundstück hasteten. Sie stolperten und fielen übereinander, nur um Blade zu entkommen. Die Gruppe bestand aus drei Vampiren, von denen einer hässlicher war als der andere. Einer schnappte nach dem anderen, sie knurrten sich gegenseitig an, während jeder von ihnen verzweifelt versuchte, nicht der Letzte der Gruppe zu sein. Hätten sie einen Moment angehalten und nachgedacht, wäre ihn vielleicht ein geeigneterer Plan in den Sinn gekommen. Oder besser gesagt: überhaupt irgendein Plan.
Denn wenn man davonrennt, besteht immer die Gefahr, dass man gefasst wird.
Am Rand des Parkplatzes angekommen, sprangen die drei über eine Absperrkette und rannten weiter zu ihren zu Rennwagen aufgemotzten Fahrzeugen, die in zweiter Reihe abgestellt waren. Gedge, der Jüngste der Gruppe, sprang in den Eagle Talon, als zwei schnellere Vampire bereits im Begriff waren, ohne ihn abzufahren. Der andere Wagen, ein alter Mustang, wendete mit durchdrehenden Reifen und steuerte auf die Parkplatzausfahrt zu, und der Fahrer ließ den Motor spöttisch aufheulen, als er am Eagle vorbeifuhr.
Gedge warf die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Voller Angst bleckte er seine spitzen Reißzähne. Nervös sah er durch die gesprungene Windschutzscheibe zu Stone und Campbell – seinen zwei Kumpanen –, die auf ihre tiefergelegten und verlängerten Chopper stiegen. Sie starteten die Motoren, zur Flucht bereit.