Ein lauter Knall ertönte, und an Viragos Stelle befand sich mit einem Mal eine Wolke aus weißer, glühender Asche, die im nächsten Augenblick zu Boden sank.
Blade öffnete die Augen und überzeugte sich davon, dass er unversehrt geblieben war. Er wischte sich Viragos Asche vom Kragen und warf Abigail einen vorwurfsvollen Blick zu, während sie ihre UV-Pistole wegsteckte. „Danke“, sagte er ironisch.
Abigail zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihm schließlich geholfen, oder etwa nicht?
Neben dem Berg Asche waren von Virago nur noch ihre Brille und die angesengten Überreste ihrer Chipkarte geblieben. Blade bückte sich und zog die Plastikkarte vorsichtig aus dem qualmenden Haufen. Er sah über die Schulter zu Vreede, der sich in einer Ecke verkrochen hatte und entsetzt auf Viragos Überreste starrte. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte der Chief noch nie einen Vampir sterben sehen. Er hoffte nur, Vreede erinnerte sich noch an diesen Anblick, wenn er sich daran machte, seine zukünftige Karriere zu planen.
Blade schnippte mit den Fingern, um Vreede auf sich aufmerksam zu machen, dann zeigte er auf die schwere Tür hinter ihm. „Also, was versteckt sich hinter Tor Nummer eins?“ überlegte er und spielte mit der Karte in seiner Hand.
Vreede schüttelte entsetzt den Kopf und fuchtelte mit den Händen. „Die werden mich umbringen.“
Blade reagierte, wie man es nur selten bei ihm beobachten konnte: Er lächelte. „Ich auch. Aber mir wird es mehr Spaß machen.“
Vreede überlegte, dann stand er auf und wirkte wie ein Häuflein Elend, während er ein Lesegerät an der Tür aufspringen ließ. Blade führte die Chipkarte ein, dann wechselte das Kontrolllicht von Rot zu Grün, und im gleichen Moment glitt die schwere Tür auf, um den Blick auf einen höhlenartigen Raum freizugeben.
Abigail schnappte nach Luft, und selbst Blade bekam den Mund nicht zu. „Großer Gott…“
Der Raum hinter der Tür hatte die Ausmaße eines Fußballfeldes und wurde von Hunderten und Aberhunderten von glänzenden Glaskapseln gesäumt. Gefüllt waren sie mit leuchtend rotem Plasma, dicke Rohre an der Ober- und Unterseite ließen die Flüssigkeit im Tank zirkulieren. Jede der Kapseln war durch dicke Kabel mit einer zentralen Steuereinheit verbunden, und in jeder Kapsel befand sich ein menschlicher Körper.
Wie in einem Traum ging Abigail auf die Kapseln zu, ohne wirklich glauben zu können, was sie da sah. Die Körper waren nackt, und an ihnen waren Drähte befestigt, als seien sie alptraumhafte Marionetten, die jede an ein ausgefeiltes System aus Biosensor-Leitungen angeschlossen waren. Jeder Körper war mit einem Tropf verbunden, der ihn mit einer Nährstofflösung versorgte.
Blade fühlte sich gegen seinen Willen zu den Kapseln hingezogen, die ihn schockierten und Übelkeit in ihm aufsteigen ließen. Es waren so viele, und er konnte nicht den Blick von den Leibern abwenden. Zwar hatte er etwas Ähnliches schon mal gesehen, aber nicht in solchen Dimensionen.
„Was ist das hier?“ flüsterte Blade gefährlich ruhig.
Vreede trat von einem Fuß auf den anderen, da ihm die Situation sichtlich unangenehm war. „Eine Blutfarm… sozusagen.“ Er sah zu den Reihen eingeschlossener Menschen hinauf, die in ihren Kapseln umhertrieben wie längst tote Exemplare ihrer Spezies, die man in Spiritus eingelegt hatte. „Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass die Jagd auf Menschen jeweils für eine Mahlzeit nicht sehr effizient ist. Warum soll man seine Beute töten, wenn sie noch produktiv sein kann, solange sie weiterlebt?“ Er kicherte nervös und sah immer wieder zur Tür. „Unter optimalen Bedingungen kann ein Spender pro Jahr zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Liter Blut produzieren.“
Abigail hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie schüttelte sich, dann zwang sie sich, eine Frage zu stellen, die ihr auf dem Herzen lag. „Aber woher kommen all diese Leute?“
Vreede sah betreten zu Boden. „Sie holen sie von der Straße. Solche Fabriken gibt es in allen großen Städten. Jedes Jahr ziehen zwei bis drei Millionen Obdachlose durch die Staaten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Niemand interessiert sich für sie. Im Grunde tun wir dem Land damit sogar einen Gefallen…“ Er verstummte, als er Abigails Miene sah.
Blade schüttelte langsam den Kopf. Er war angewidert von dieser schrecklichen Effizienz. „Die Endlösung der Vampire.“
Er ging zu einer der Kapseln und strich sanft mit der Hand über das Glas, während er die komatöse Person in ihrem Inneren betrachtete. Es war eine Frau, die deutlich über fünfzig war. Ihr langes graues Haar lag um ihr Gesicht und verdeckte zum Teil die faltigen Züge. Ihre Augen waren geschlossen, der Körper regte sich nicht.
Wut breitete sich in Blade aus, doch es gelang ihm, sie kontrollieren und tief in seinem Inneren zu vergraben, wo sich der Hass angesammelt hatte, den er von seiner Geburt an empfunden hatte.
Später war noch Zeit genug, um Vergeltung zu üben.
„Sind sie bei Bewusstsein? Fühlen sie irgend etwas?“ Blades Stimme klang ruhig, doch dahinter war ein stählerner Unterton zu vernehmen, der Vreede sagte, dass er seine Worte mit größter Sorgfalt wählen sollte.
Vreede schüttelte den Kopf, sein Herz raste. „Sie wurden mit chemischen Mitteln in ein künstliches Koma versetzt. Sie sind hirntot. Gemüse sozusagen.“
Blade starrte ihn an und zwang sich, die Erinnerungen zu ertragen, die in ihm hochkamen. Drei Jahre zuvor war Whistler von Deacon Frost und dessen Handlangern entführt worden. Blade hatte ihn nach einer schier endlosen Suche endlich gefunden, gefangen in einem riesigen Tank, vermutlich einem Prototyp dieser Dinger hier. Der alte Mann war bei vollem Bewusstsein gewesen, während er in diesem Ding in künstlichem Schlaf hing und die Wunden verheilten, die sie ihm zugefügt hatten.
Blade hatte mehr als ein Jahr gebraucht, um ihn zu finden.
Er hatte nicht einmal gewusst, dass sein Mentor noch lebte. Als er ihn vor der Entführung das letzte Mal gesehen hatte, da lag Whistler im Sterben. Nur eine halbe Stunde lang hatte Blade den alten Mann allein gelassen, und die Zeit hatte ihnen genügt, um ihn ausfindig zu machen.
Sie hatten ihn ausgefragt und in Stücke gerissen.
In nicht einmal dreißig Minuten hatten sie eine lebenslange Freundschaft vernichtet, und sie besaßen nicht mal genug Anstand, um ihn in Würde sterben zu lassen. Blade war heimgekehrt und hatte seinen Mentor vorgefunden, der sich nur noch an einen letzten Rest von Leben geklammert hatte. Er hatte die bis auf die Knochen reichenden Bisswunden gesehen, die seinen ganzen Körper durchsiebten. Da hatte er gewusst, was er tun musste. Er gab dem alten Mann eine seiner Mach-Pistolen, dann war er fortgegangen, und wenige Augenblicke war ein Schuss zu hören gewesen, der in seinen Ohren dröhnte.
Doch als er später in der Nacht zurückgekehrt war, da war Whistlers Leichnam verschwunden.
Zum Glück für Whistler – sofern man überhaupt von Glück reden konnte – hatte das Jahr in diesem Tank das Vampir-Virus daran gehindert, von ihm Besitz zu ergreifen. Es war Blade gelungen, ein wirksames Gegenmittel zu schaffen, indem er den alten Mann mit einem selbstgebrauten Cocktail aus seinem eigenen Serum und Allicin vollgepumpt hatte. Er hatte gehofft, dass die Kombination aus beidem den Vampirmüll aus seinem Körper brennen würde, anstatt ihn auf der Stelle umzubringen.
Aber beides war immer noch besser als das Schicksal, das ihn sonst erwartet hätte.
Als er jetzt die unzähligen konservierten Körper sah, spürte Blade, wie sich eine eiserne Faust um sein Herz legte. Es sah so aus, als hätten die Vampire ihren widerwärtigen Prozess schließlich doch noch perfektioniert, indem sie das Gehirn der gefangenen Menschen sterben ließen, während der Körper am Leben erhalten wurde.
Für keines dieser Opfer gab es noch ein Zurück.
Ohne Vorwarnung packte Blade Vreede und presste ihn mit dem Gesicht voran gegen eine der Kapseln. „Sieh es dir an! Ist das die Zukunft, die du anstrebst? Glaubst du, in dieser Welt wird es für dich noch einen Platz geben?“