Vreede begann zu heulen, mit schriller Stimme erwiderte er: „Wir haben keine andere Wahl! Sie werden gewinnen, siehst du das nicht? Er ist zurückgekommen! Niemand kann sie jetzt noch aufhalten.“
Blade riss Vreede zu sich herum, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Vreede sah ihm in die lodernden Augen und wurde sehr ruhig.
Nach ein paar Sekunden erwiderte Blade: „Doch. Ich.“
Er ließ Vreede los, der nach vorn fiel und vor Angst wirr drauflos plapperte. Blade drehte den Kopf des Chief zur Tür. „Verschwinde. Du hast dreißig Sekunden.“
Erleichtert aufschluchzend rappelte Vreede sich auf und stolperte in Richtung Tür davon.
Blade sah ihm einen Moment lang nach, dann kehrte sein Blick zurück zu der Menschenfarm. So viele Leute…
Er zog seine Mach-Pistole. Ohne sich umzudrehen, zielte er allein nach dem Geräusch der Schritte auf Chief Vreede, dann drückte er ab. Es folgte ein Geräusch, das sich anhörte, als falle ein nasser Sack zu Boden, und dann lag der Polizeichef tot da.
Blades Blick war noch immer auf die Reihen von Körpern gerichtet, während er seine Pistole wegsteckte.
Er ging zum zentralen Kontrollpult, das den Herzschlag und die Körpertemperatur von fast tausend verlorenen Seelen regulierte. Nachdem er den Hauptschalter gefunden hatte, packte Blade ihn und drehte ihn langsam, ja, fast liebevoll in die Aus-Stellung. Sofort leuchtete eine Warnlampe an der Konsole und ein Schriftzug flammte auf:
WARNUNG:
Alle Lebenserhaltungssysteme wurden abgeschaltet
Notlampen flammten auf, während das komplette System heruntergefahren wurde. Die Versorgung mit Nährlösung kam mit einem gurgelnden Laut zum Stillstand, tausend Sauerstoffpumpen wurden langsamer und blieben schließlich stehen. Nach und nach reduzierten sich die Anzeigen der Lebensfunktionen und der EKGs an jeder Kapsel auf eine schnurgerade Linie. Die Warntöne jeder einzelnen Einheit verschmolzen zu einem durchdringenden Heulen, das wie die Schreie von Toten klang.
Blade wandte sich zu Abigail um, seine Schultern hingen schlaff herunter. Es gab nichts mehr, was er noch hätte tun können. „Lass uns gehen.“
Im Hauptquartier arbeitete Sommerfield die Nacht hindurch, während sie darauf wartete, dass Abigail und Blade zurückkehrten. Zoe saß in ihrer Nähe vor den Überwachungsmonitoren des Labors und beobachtete Dex und Hedges, die im Lagerraum nebenan Basketball spielten, um das Koffein zu verbrennen, das sie die Nacht über zu sich genommen hatten.
Die Beleuchtung im Labor war ausgeschaltet, da Sommerfield sie für ihre Arbeit nicht benötigte. Sie war recht stolz auf diesen einen Punkt, da sie fand, dass sie so etwas für die Umwelt tun konnte. Oft überraschte sie damit die anderen, die in den dunklen Raum getapst kamen und sie an ihrem Tisch anrempelten.
Sie aktivierte die Sprachausgabe ihres Rechners und lehnte sich zurück, um den Statistiken zu lauschen, die der Computer ihr vorlas und die das modifizierte Seuchenvirus Day-Star angingen. „Zytogenetische Prüfdaten vom 15. August. Fruchtwasser, Eingabeverzögerung: null. Abnorme Proben: zwei. Bindefähigkeit: sieben Komma zwei.“
Die sanfte synthetische Stimme des Computers redete weiter, aber Sommerfields Konzentration driftete fort zu Blade und Abigail und der Sorge um sie. Es war eine Ewigkeit her, dass sie sich auf den Weg gemacht hatten. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht in Schwierigkeiten steckten und heil zurückkehren würden.
Nach einer Minute der Ungewissheit zog sie ein buntes Taschenbuch zwischen ihren verstreut liegenden Braille-Ausdrucken heraus. Zoe strahlte, als sie sah, dass ihre Mutter das Buch festhielt, und klatschte begeistert in die Hände. Ihre Geduld war belohnt worden, sie bekam jetzt eine Geschichte vorgelesen.
Sommerfield nahm die dunkle Brille ab, so dass sich der schwache Schein des Bildschirms in ihren fahlen, starkranken Augen spiegelte. Sie klappte das Buch an der Stelle auf, an der sich das Lesezeichen befand, und fuhr mit den Fingerspitzen zügig über den großen Braille-Text.
Das Buch hieß The Emerald City of Oz, eines von Zoes Lieblingsbüchern.
Sie begann zu lesen: „Der Grund, warum Leute schlecht sind, ist meistens der, dass sie nicht versuchen, gut zu sein. Der Gnomenkönig hatte noch nie versucht, gut zu sein, daher war er ganz besonders schlecht.“
Sommerfield schlug die Seite um und las weiter, während Zoe sie bewundernd beobachtete. Sie hatte diese Geschichte schon tausendmal gehört, aber sie liebte es immer wieder, sie vorgelesen zu bekommen.
„Nachdem er beschlossen hatte“, fuhr ihre Mutter fort, „das Land Oz zu erobern und die Smaragdstadt zu zerstören und all ihre Bewohner zu versklaven, begann König Roquat der Rote zu planen, wie er diese furchtbare Sache ausführen konnte. Je länger er plante, desto fester glaubte er daran, dass er seinen Plan auch verwirklichen konnte…“
Hinter ihnen befand sich die Videowand, die in Schwarzweißbildern jeden Winkel des Hauptquartiers zeigte. Alle Räume waren leer, einige Monitore zeigten ein schwarzes Bild, weil das Licht ausgeschaltet worden war.
Nur ein Monitor bildete eine Ausnahme.
Der Eckmonitor bot eine Ansicht des Hauptlagers. Die große Zugangstür stand offen, die Neonröhren beleuchteten den weitläufigen, überdachten Arbeitsbereich und waren zugleich Lichtquelle für die Basketballpartie von Dex und Hedges. Das war nicht ungewöhnlich, die beiden spielten jeden Donnerstagabend, um die aufgestaute Anspannung der abgelaufenen Woche abbauen zu können. Man konnte nach den zweien fast die Uhr stellen.
Doch während Sommerfield weiter vorlas, bewegte sich hinter den Männern ein Schatten, und im nächsten Moment spähte hinter dem Land Cruiser eine Gestalt hervor. Sobald die beiden Nightstalker ihr den Rücken zukehrten, kam die Gestalt hinter dem Fahrzeug vor und sah sich um, als orientiere sie sich. Dann bewegte sie sich leicht humpelnd in Richtung Tür.
Dex und Hedges spielten weiter und waren so sehr in ihre Partie vertieft, dass sie nichts von der Gestalt wahrnahmen, die um die Ecke des Gebäudes verschwand und sich zum Eingang zu den Quartieren begab. Als die Gestalt dicht vor der Überwachungskamera erschien, wurde sie kurz in Licht getaucht und entpuppte sich als weißhaariger, bärtiger Mann in zerlumpter Kleidung.
Der automatische Alarm reagierte sofort und ließ zuckende grüne Lichtstrahlen über das Gesicht des Manns wandern, um es zu scannen. Dann schaltete sich das System ab, ohne Alarm auszulösen, da die Person identifiziert worden war. Das Haupttor öffnete sich, um ihr Einlass zu gewähren. Abraham Whistler betrat das Hauptquartier der Nightstalker und ging in Richtung Treppe.
King lag schnarchend auf seinem Bett und stand immer noch unter einer Restwirkung der Schmerztabletten, als die Tür zur Krankenstation aufging und sanft vom Türstopper zurückprallte.
Er öffnete die Augen einen Spaltbreit und sah die Silhouette einer dunklen Gestalt in der Türöffnung, die dastand und in den Raum sah.
King blinzelte im hellen Licht und gähnte ausgiebig. Es wurde auch Zeit. Mit der Zunge fuhr er über seine spröden Lippen, während er sich fragte, wie lange er wohl geschlafen hatte. Er war so hungrig, dass er das Gefühl hatte, sein Magen würde jeden Moment ohne ihn aufstehen und sich auf den Weg zum nächsten Supermarkt machen. „Hast du mir die Fruit Roll-Ups mitgebracht, die ich bestellt habe?“, fragte er.
Die Figur trat jetzt ins Licht und wirkte auf einmal sehr vertraut.
Kings Kiefer klappte unwillkürlich nach unten. Er schirmte seine Augen gegen das Licht ab, dann fragte er ungläubig: „Ey, Mann, bist du nicht tot?“
Der graubärtige Mann antwortete nicht.
King rutschte auf seinem Bett nach vorn und versuchte, sich aufzusetzen, damit er den alten Mann besser sehen konnte. Was hatte Dex ihm da bloß eingetrichtert? Er musste mehr davon haben. Das konnte nicht real sein. Er hatte das Bootshaus gesehen, besser gesagt: das, was vom Bootshaus geblieben war. Von Blades und Whistlers Versteck hatte nichts mehr existiert außer einem Haufen verbrannten Holz und verdrehter Metallträger. Die Vernichtung war so vollständig gewesen, dass sie nicht mal Whistlers Leichnam hatten finden können.