Kein Lebewesen konnte diese Explosion überlebt haben.
King sah verwirrt zu Whistler und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sofort war der alte Mann bei ihm und legte seine runzlige Hand auf Kings Mund. Er drückte den Mann zurück aufs Bett, während King sich zu wehren versuchte, doch er war unglaublich stark. Der Nightstalker wand sich unter diesem stählernen Griff und zerrte an der Hand, die ihn ersticken wollte und die nur noch fester zupackte…
Draußen im Lagerraum lag Dex deutlich in Führung. Auch wenn er der Kleinere von beiden war, besaß er durch seine täglichen Kämpfe gegen Vampire und sein regelmäßiges Training mit Gewichten einen gewissen Vorteil. Dex duckte sich und wich zur Seite aus, wobei er den keuchenden Hedges mühelos abhängte, als sie über die groben Kreidemarkierungen auf dem staubigen Boden rannten.
Dex erzielte einen weiteren Korbleger und ließ den Ball mit einem Siegesgeheul vom Boden abprallen, dann lachte er über den Gesichtsausdruck seines Gegners. Seiner Meinung nach verbrachte Hedges zu viel Zeit in geschlossenen Räumen und befasste sich zu ausgiebig mit seinem Labor. Mann, dieser Kerl war so außer Übung, dass er nicht wissen würde, was er überhaupt tun sollte, falls ihm auf einmal ein Vampir gegenüberstand.
Er musste über eine Erinnerung lachen. Bei der einzigen Gelegenheit, bei der Hedges zu einem Einsatz mitgekommen war, hatten sie ihm die simple Aufgabe gegeben, ein Vampirkind festzuhalten, damit King ihm den Kopf abschlagen konnte. Als der Kopf dann explodiert war, hatte Hedges wie ein Mädchen geschrien und sich dann übergeben müssen, nachdem ihm durch die Wucht der Explosion die Eingeweide der Kreatur entgegengeschleudert waren und sich wie ein Wurstkranz um seinen Hals gelegt hatten. Dex hatte so sehr lachen müssen, dass er sich um ein Haar auch noch übergeben hätte. Später hatte er sich noch wochenlang darüber amüsieren können.
Dex dagegen sorgte dafür, dass er in Form blieb. Er meldete sich freiwillig zu jedem Einsatz, den Abigail zu bieten hatte, ob er Kisten im Lager stapeln oder ihr helfen sollte, einen Vampir zu verhören. Er war bei dieser Operation derjenige, der die Muskeln hatte, und das sollte auch jeder wissen.
Vor vielen Jahren war er einer von den Boxern gewesen, die mit bloßen Fäusten kämpften. Jeden Mittwochabend war er vor Hunderten von Zuschauern angetreten, um den Jackpot abzuräumen. Er war Woche um Woche ungeschlagen geblieben, bis zu jenem schicksalhaften Abend im Spätherbst, als ein verärgerter Vampirwetter seine Verlobte getötet hatte, um sich dafür zu rächen, dass er den Lokalmatador im Mittelgewicht besiegt hatte. Nun kämpfte Dex einen anderen Kampf, bei dem er versuchte, sein in tausend Stücke zerschlagenes Leben Stück für Stück wieder in den Griff zu bekommen. Jeder Blutsauger, den er tötete, war ihm dabei behilflich.
Dex hörte das stumme Grölen der Menge, als er Hedges den Ball abnahm und hinter dem Rücken des Ingenieurs den Ball im Sprung warf. Er ging zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten durch den Ring, und Dex reckte triumphierend den Arm in die Höhe.
Das war zu leicht. Er würde den Kerl heute Nacht regelrecht abschlachten.
Hinter ihm trat ein Mann mit grauem Bart aus dem Schatten.
Sommerfield war fast am Ende der Geschichte angelangt, als sie ein seltsames Geräusch aus dem Lagerraum vernahm – ein dumpfer Aufprall, gefolgt von einem gedämpften Tropfen, als sei ein Wasserhahn nicht ganz zugedreht worden. Dann kehrte abrupt tödliche Stille ein.
Irritiert drehte sie sich auf ihrem Bürostuhl um und wandte sich der offenstehenden Tür zu, die zum Lagerraum führte. Ihr Computer las derweil mit ruhiger, monotoner Stimme weiter Daten vor: „Blut, Eingabeverzögerung: null. Abnorme Proben: zehn. Bindefähigkeit: acht Komma eins…“
Sommerfield konzentrierte sich voll auf ihr Gehör. Diese Stille wirkte beängstigend.
Sie streckte eine Hand aus und unterbrach die Sprachausgabe. „Jungs? Alles in Ordnung?“
Wie eine Reaktion auf ihre Frage kam der Basketball durch die Tür geflogen, prallte ein paar Mal vom Boden ab und stieß leicht gegen die Stuhlbeine, um dann unter eine Bank zu rollen.
Sommerfield konnte hören, wo er gelandet war. Sie stand langsam auf und fischte den Ball mit ihrem Stock unter der Bank hervor.
Die Jungs mussten mal wieder ihr Ziel weit verfehlt haben, dachte sie belustigt. Dabei hatte sie ihnen schon mehr als einmal gesagt, sie sollten die Tür zumachen. Na ja, wenigstens hatten sie nichts Wertvolles zerbro…
Sie erstarrte, als sich ihre Finger um den Ball schlossen. Etwas Warmes, Klebriges haftete auf seiner Oberfläche. Vorsichtig stippte sie einen Finger in die Flüssigkeit und verrieb sie, um ihre Konsistenz zu ertasten. Zögernd nahm sie ihre Hand hoch, um zu schnuppern.
Blut.
Sommerfields Herz begann zu rasen. Der Ball glitt ihr aus den Fingern, die ihr mit einem Mal nicht mehr gehorchen wollten, und prallte ein paar Mal vom Boden ab. „Zoe?“, rief sie.
Die Kleine sah gehorsam zu ihrer Mutter auf.
„Geh und versteck dich, meine Süße.“
Zoe zögerte und blickte von ihrer Mutter zu dem Buch, das mit den Seiten nach unten auf dem Tisch lag.
Sommerfield holte mit ihrem Stock aus und schlug gegen ein Regal. „Verdammt, nun geh schon! Verschwinde von hier, Zoe!“
Mit einem leisen Angstschrei machte sich Zoe auf den Weg.
Ihre Mutter ertastete sich unterdessen so schnell und so leise, wie es nur ging, den Weg durchs Labor, um zum Lagerraum zu gelangen. Sie fand den Waffenschrank an der Wand neben der Tür und fasste hinein, um sich eine von Kings elektronischen Pistolen zu greifen. Dann bewegte sie sich Schritt für Schritt auf das Lager zu.
Dort war es dank einer ganzen Reihe von leistungsstarken Deckenventilatoren kalt. Sommerfields Haut kribbelte, als sie die Gefahr spürte. Sie blieb in der Türöffnung stehen und horchte angestrengt auf das leiseste Geräusch. Ihr eigener Herzschlag pochte so laut in ihren Ohren, dass sie frustriert den Kopf schüttelte, weil sie sich von ihrem eigenen Körper verraten fühlte.
Sie wartete weiter, die Nerven auf das Äußerste angespannt, doch aus dem Lagerraum war kein Laut mehr wahrzunehmen. Allerdings fühlte sie an der Art, wie sich die Luft im Raum bewegte und wie sich der akustische Eindruck verändert hatte, dass sich ein Lebewesen dort aufhielt. Sie kannte jeden Meter der Werft in- und auswendig, und sie fühlte, dass etwas nicht stimmte. Es hing so deutlich wahrnehmbar in der Luft, als treibe dort eine dicke Rauchwolke.
So leise es ging, entsicherte sie Kings Waffe. Wenn Dex und Hedges ihr irgendeinen dummen Streich spielen wollten, dann wäre es ihre eigene Schuld, wenn sie sie beide erschoss.
Doch noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, wusste sie, dass dies kein alberner Scherz war. Es war viel zu ruhig, fast so, als sei die Zeit erstarrt.
Sommerfield ließ eine ganze Minute verstreichen, während sie einfach nur flach atmete, um zur Ruhe zu kommen. Sie musste das machen, es gab keine andere Lösung. Abigail und Blade waren am anderen Ende der Stadt, King lag oben im Bett und war bewusstlos.
Sie musste Zoe beschützen, und das um jeden Preis.
Als die Minute um war, trat sie vorsichtig durch die Tür, wobei sie inständig betete, dass der Eindringling – wenn es sich um einen solchen handelte – das Gelände längst wieder verlassen hatte.
Es war ihr nicht möglich, die Grauen erregende Szene zu sehen, die sich ihr dort präsentierte, doch sie konnte das Blut riechen. Der Geruch traf sie mit Wucht, da er von den Deckenventilatoren aufgewirbelt und im Raum verteilt wurde. Der Betonboden war damit durchtränkt, und Sommerfield musste einen Entsetzensschrei unterdrücken, als ihr Stock auf dem Blut wegrutschte.
Langsam bewegte sie sich weiter vor und strich mit ihrem Stock über den Boden, um nach Hindernissen zu suchen. Mit der anderen Hand hielt sie die Pistole fest umschlossen.
Nach einigen Schritten stieß sie gegen etwas Schweres, das auf dem Boden lag. Unwillkürlich stieß sie einen leisen Schrei aus, als sie etwas Warmes, Zähflüssiges spürte, das ihre Kleidung durchweichte.