Er bewegte seine Hand nicht von der Stelle. „Tu es!“
Abigail hob den Kopf und stieß einen gequälten Schrei aus, der aus dem Innersten ihrer Seele kam.
Drake befand sich außerhalb des Hauptquartiers der Nightstalker. Er lauschte… und lächelte.
16
Als King allmählich wieder das Bewusstsein erlangte, nahm er drei Dinge wahr.
Erstens schmerzte sein Kopf.
Das war an sich nichts Neues. King war über die Jahre öfter bewusstlos geschlagen worden, als er sich an seinen Fingern abzählen konnte. Man konnte fast darauf wetten, dass es keinen Widersacher gab, der King noch nicht ins Land der Träume geschickt hatte. Als Folge davon war sein Schädel ein wenig dicker als bei einem durchschnittlichen Menschen, zugleich war sein Gehirn dadurch etwas besser geschützt. Normalerweise wachte er nach einer Gehirnerschütterung mit Kopfschmerzen auf – und mit einem eigenartigen Heißhunger auf Dosenfleisch, gegen den nicht einmal Sommerfield mit ihren kenntnisreichen Medikationen etwas tun konnte.
Aber schließlich war niemand vollkommen.
Zweitens schmerzten seine Handgelenke.
Das war an sich auch nicht weiter bedenklich. Die Barkeeperinnen im Dog House konnten sich nach dem Erlöschen der Beleuchtung als echte Teufelinnen entpuppen – im wahrsten Sinn des Wortes.
Drittens kam es ihm so vor, als würde ihm jemand mit einem Stück nassem Schmirgelpapier über die Wange streichen.
Was zum Teufel war das?
King seufzte leise. Wenn er alles zusammenfügte, dann bedeuteten all diese Dinge, dass die letzte Nacht entweder unglaublich gut gelaufen oder dass ihm etwas widerfahren war, das zu grässlich war, um überhaupt darüber nachzudenken.
Er bewegte sich ein wenig auf der Stelle, um eine bequemere Position zu finden. Der Boden, auf dem er lag, war sehr hart. In seinem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz, der sich in seinen ganzen Körper fortzusetzen schien und von der obersten Schicht der Kopfhaut bis zu den Stiefelsohlen reichte. Gleich unterhalb des Bewusstseins lauerte etwas sehr Unangenehmes, so wie ein Zigarettenstummel, der in einer halb ausgetrunkenen Dose Bier schwamm. Er wusste, wenn er auch nur einen Augenblick zu lange darüber nachdachte, dann würde dieses Etwas sich sofort auf eine schreckliche Weise bemerkbar machen, und dann würde er sich damit auseinandersetzen müssen.
Aber es half alles nichts. Er würde aufwachen müssen.
King stöhnte so laut und aufdringlich, wie es nur möglich war.
Dann öffnete er vorsichtig ein Auge.
Schwindel erfasste ihn im gleichen Moment und wirbelte in seinem Gehirn herum. Seine Augen widersprachen dem, was sein Körper fühlte. Er lag gar nicht auf dem Boden, sondern kniete darauf. Der Beton, den er für den Fußboden gehalten hatte, gab ihm vielmehr Rückhalt. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Ihm war mehr als kalt, er war bis auf die Knochen durchgefroren, was er einer überschwenglich arbeitenden Klimaanlage zu verdanken hatte.
Wo war sein Hemd? Er hatte es doch am Morgen angezogen. Was zum Teufel war hier los?
Dann sah King hinter sich und bekam die Antwort auf seine Frage.
Irgendein Idiot hatte ihn halbnackt an eine Säule gekettet.
Er blickte sich um und hoffte, dass ein paar tanzende Mädchen auftauchten, die genauso wenig am Leib trugen wie er und die ihm Schlagsahne mit Kirschgeschmack auf die Haut schmieren würden.
Das hoffnungsvolle Lächeln gefror ihm auf den Lippen, als er seine Umgebung in Augenschein nahm. Er befand sich in einem großen, schwach beleuchteten Raum, der zwar luxuriös wirkte, jedoch den Eindruck machte, als sei vor kurzem eine Bisonherde durchgerannt. Der ausladende Teppich war an mehreren Stellen zerrissen, und einige Gemälde hingen schief an den Wänden, deren Verputz faustgroße Löcher aufwies. Eines der mit einem Laden versehenen Fenster war zerschlagen worden, und eine Statue lag inmitten der Überreste eines einstmals edel aussehenden Glastisches.
Während sich King verwirrt umsah, lief etwas Warmes über seine Stirn, und wie gebannt beobachtete er, dass ein großer Blutstropfen seitlich über seine Nase lief und auf die Wange tropfte.
Plötzlich tauchte eine kleine rosafarbene Zunge scheinbar aus dem Nichts auf und leckte den Tropfen ab.
King riss erschrocken das andere Auge auf. Ein kleiner Spitz stand neben ihm auf den Hinterläufen, die Vorderpfoten auf seine Brust gestützt, und leckte hastig das Blut weg.
King spuckte und versuchte, seinen Kopf wegzudrehen. Die Reaktion darauf war ein helles, aber kehliges Knurren.
Er hob die Augenbrauen und sah den Fellball mit verkniffenen Augen an, als der nicht von ihm abließ. „Verschwinde, Köter.“
Er war nicht in der Stimmung für so etwas. Er musste von hier verschwinden und Blade finden, um ihn vor Whistler zu warnen, bevor er…
Wieder knurrte der Spitz, diesmal jedoch lauter. Einen Moment später hörte King ein seltsames, organisches Reißen. Am Kinn des Hundes bildete sich eine schmale blutige Linie, als habe ihm jemand mit einem unsichtbaren Messer ins Fleisch geschnitten. Während King entsetzt zusah, wurde der Schnitt länger und länger und weitete sich auf dem kleinen Hundekopf, der an einen Miniaturlöwen erinnerte, weiter aus, wie sich an einer Statue bei einem Erdbeben Risse bildeten.
Ohne Vorwarnung klappte die Schnauze der Kreatur in der Mitte auseinander, so dass King schockiert nach hinten zurückwich, während sich die untere Kopfhälfte des Tiers mit einem feuchten, saugenden Geräusch umkehrte. Sie klappte so an den Seiten des Hundekopfs weg, wie man eine Bananenschale in zwei Hälften zerteilte. Eine teuflische Zunge mit Widerhaken schoss aus dem weit aufgerissenen Maul hervor, die sich gierig nach King ausstreckte, der sich mit einem Aufschrei gegen die Säule presste. Der Spitz stellte die Vorderpfoten auf den Boden und brüllte, als wolle er ihm im nächsten Moment den Kopf abreißen.
„Heiliger Jesus!“
Ringsum ertönte schallendes Gelächter. Der bullige Grimwood kam zur Tür herein und riss das mutierte Tier an seiner Leine fort von King. Seine tätowierten Muskeln spannten sich an, als die winzige Kreatur wie wild um sich schnappte und sich Schaum vor ihrem Maul sammelte. Asher und Danica kamen hinter einer Säule hervor und kicherten wie zwei Schulmädchen.
„Was soll die Scheiße?“ King betrachtete fassungslos die drei Vampire, sein Herz raste wie verrückt.
Asher trat noch ein Stück weiter vor. „Der Kleine heißt Pac Man. Wir haben Experimente durchgeführt, um Vampirgene auf andere Spezies zu übertragen.“ Während King mit aufgerissenen Augen zusah, beugte sich Asher vor und strich dem knurrenden Höllenhund über den Kopf. Auf die Berührung hin zog das Tier die insektenartige Zunge ein und klappte sein Maul wieder zusammen, als handele es sich um ein komplexes Origami-Puzzle.
Der Spitz sah Asher an und hechelte glücklich.
King konnte es nicht fassen. „Ihr habt einen gottverdammten Vampirhund geschaffen?“
Grimwood grinste. „Jau. Cool, was?“
King sackte in sich zusammen und versuchte, zu Atem zu kommen. Er war kreidebleich im Gesicht. „Kommt darauf an, wen du fragst. Denn der Hund hat auf jeden Fall einen größeren Schwanz als du.“
Grimwood knurrte. „Und wann willst du meinen Schwanz gesehen haben, du Arschgesicht?“ Wütend verpasste er King einen Schlag gegen den Kopf.
Vor Kings Augen drehte sich alles, dennoch deutete er auf Danica. „Autsch. Ich habe doch mit ihr gesprochen.“
Das arrogante Lächeln verschwand von Danicas Gesicht. Sie holte aus und trat mit der Stahlkappe ihrer hochhackigen Schuhe genau in sein Gesicht. Dann hockte sie sich vor ihn hin und begutachtete die Verletzung mit spöttisch-besorgter Miene. „Armer kleiner King. Du siehst so mitgenommen aus.“ Mit einem Finger wischte sie das Blut von Kings Mund, während er sie finster ansah, und leckte dann ihre Fingerspitze ab. „Du schmeckst etwas fad, mein Süßer“, erklärte sie lächelnd. „Du nimmst wohl nicht genug Fettsäuren zu dir, oder?“
King starrte sie nur durchdringend an, da er sich eine Antwort lieber verkniff.