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Den Rest überließ er ihnen selbst.

Diese Leute würden auf Abigail aufpassen, hatte er sich immer wieder gesagt. Es wäre viel zu riskant gewesen, wenn seine Tochter direkt mit ihm zusammengearbeitet hätte. Würde sie jemals in die Fänge von Vampiren geraten, so hatte Whistler ihr ohne Umschweife erklärt, dann wusste er mit absoluter Sicherheit, dass er sein Leben und vielleicht sogar Blades Leben geben würde, um sie zu retten. Mit einer solchen Sorge wollte er sich aber nicht belasten.

Außerdem – so hatte er ihr ein wenig verlegen gestanden – würde sie keinen Gefallen daran finden, wenn er und Blade sich einmal wöchentlich Horrorfilme ansahen und dabei ihr bevorzugtes Currygericht aßen.

Bei den Nightstalkern würde Abigail in Sicherheit sein, und sie musste dort nicht ständig steinhart gewordenes Fladenbrot von den Kissen wischen. Gemeinsam würden sich ihre individuellen Talente zu einer mächtigen Geheimwaffe gegen die Vampire vereinen, die an seiner Stelle weitermachen konnte, wenn ihm und Blade jemals etwas zustoßen sollte.

Es kam einem Testament so nahe, wie es Whistler nur eben möglich war.

Abigail betrachtete den Bogen in ihren Händen. Eine plötzliche Woge der Angst durchlief ihren Körper. Sie bekam eine Gänsehaut und musste sich aufstützen, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Ihr Vater war gerade mal seit zwei Tagen tot, und schon waren die Nightstalker auf die denkbar grausamste Weise vernichtet worden.

Sie war nur eine Stunde fortgewesen…

Abigail schüttelte nachdrücklich den Kopf. Sie konnte sich dafür nicht die Schuld geben. Sie wusste, wenn sie geblieben wäre, dann hätte man sie höchstwahrscheinlich auch umgebracht. Es war nicht ihr Fehler gewesen.

Aber warum fühlte sie sich dann so verdammt schuldig?

Sie griff nach einem kleinen Schraubenzieher und arbeitete ruhig und präzise an ihrem Bogen, nahm hier und da kleinere Anpassungen vor. Tränen brannten in ihren Augen, sie wischte sie wütend weg, damit sie sehen konnte, was sie tat. Wenn King noch lebte, musste sie auf den Millimeter genau treffen können.

In der Dunkelheit außerhalb der Werkstatt bewegte sich etwas. Blade erschien in der Tür, ein Schatten inmitten von Schatten. Einen Moment lang beobachtete er Abigail stumm. Er war sich nicht sicher, ob er sie störte oder nicht. Sie war jetzt schon seit über einer Stunde mit dem Bogen beschäftigt, und er fragte sich allmählich, was daran so lange Zeit in Ansprach nehmen konnte.

Er lehnte sich gegen den Türrahmen, während er ihr weiter bei der Arbeit zusah. Sie hielt den Kopf gesenkt und war völlig konzentriert, während sie mit ihren geschickten Fingern winzige Veränderungen an der elektronischen Spannungsanzeige vornahm.

Nachdem er noch einen Moment lang gewartet hatte, räusperte er sich, doch Abigail machte einfach weiter und drehte sich gleichzeitig ein wenig von ihm weg, während sie nach einem Tuch griff und sich daran machte, das elektronische Visier zu säubern.

Blade runzelte die Stirn. Ignorierte sie ihn jetzt absichtlich? Vielleicht störte er wirklich, doch seit sie Sommerfields Leiche entdeckt hatten, war ihr kaum noch ein Wort über die Lippen gekommen. Blade fand, er sollte etwas sagen, bevor das Schweigen noch länger anhielt. Ob es ihnen gefiel oder nicht – sie beide waren jeder die einzigen Überlebenden ihrer Organisationen. Es war lebenswichtig, dass sie sich austauschten.

Wieder räusperte er sich, diesmal geringfügig lauter. „Alles in Ordnung?“, fragte er ein wenig schroff.

„Mir geht’s gut.“ Abigail antwortete reflexartig, aber ihr Tonfall war schneidender, als sie es beabsichtigt hatte. Sie hustete und starrte auf den Lappen in ihrer Hand, während sie versuchte, die Tränen aufzuhalten. Wenn er doch endlich verschwinden würde!

Blade nickte knapp. Abigail wollte in Ruhe gelassen werden, das war sogar ihm klar. Er war schließlich nicht völlig gefühllos.

Er wandte sich zum Gehen, zögerte dann aber und kämpfte mit sich selbst. Sein Blick kehrte zu Abigail zurück, die sich weiter dem Visier widmete und den Kopf gesenkt hielt. Eine Erinnerung ging ihm durch den Kopf, die ihn traurig lächeln ließ.

Wie der Vater, so die Tochter. Er kannte Abigail erst seit kurzer Zeit, aber schon jetzt erkannte er all die kleinen Eigenarten, die sie mit Whistler gemeinsam hatte. Whistler war genauso stur gewesen, wenn es darum ging, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. In so vielen Nächten war Blade von einem Auftrag zurückgekehrt und hatte den alten Mann vor dem winzigen Schwarzweißfernseher angetroffen, eine Flasche Scotch in der einen, ein paar verblasste Schnappschüsse in der anderen Hand. Sobald er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, schob er sie unter ein Kissen, aber der Daywalker hatte die Tränen in den Augen des alten Mannes sehen können, bevor er sie rasch mit dem Ärmel oder einem alten Lappen weggewischt hatte.

Er hatte noch immer um die Familie getrauert, die er verloren hatte, das war Blade klar. Doch Whistler behielt seine Gefühle für sich und versteckte sie hinter einem gewohnheitsmäßig schroffen Gehaben und hinter Macho-Getue. Er wollte, dass Blade ihn als einen starken Mann sah, weil er dachte, Blade würde dadurch ebenfalls stark. Doch in Wahrheit hatte es Blade zu einem harten Mann gemacht, der wenig mehr konnte, als zu jagen, zu töten und gelegentlich ein paar Lebensmittel einzukaufen.

Von Natur aus war Blades Leben voller extremer Emotionen. Doch im Lauf der Jahre hatte er sie immer mehr ignoriert und ihnen gestattet, zu einem Teil seines Jobs zu werden, aber zu nichts weiter. So wie er die Sache sah, war es nicht seine Aufgabe, hinter den Vampiren aufzuräumen. Er hatte sie nur zu töten, sollte sich doch der Rest der Welt darum kümmern, die Folgen in den Griff zu bekommen. Er war ein Killer, kein Therapeut.

Es war nicht so, dass es ihn nicht gekümmert hätte. Er wusste bloß nicht, wie er das ausdrücken sollte. Blades Verstand funktionierte wie eine gut geölte Maschine, voller praktischer Erwägungen und Strategien, Gegenmaßnahmen und Angriffspläne. Töte den Vampir. Rette die Frau. Schaff das Kind ins Krankenhaus. Fackel das Versteck ab. Wenn es darum ging, Vampire zu jagen, war Blade der Beste, den man finden konnte. Aber wenn es um emotionsgeladene Situationen ging, machte Blade lieber einen großen Bogen um sie. Sterbende Opfer überließ er dem Krankenhauspersonal, als hätte er einfach irgendein Päckchen abgeliefert. Und wenn er seine Kleidung von Blut reinigte, war er in Gedanken schon beim nächsten Fall und schluckte Tabletten, um die Schreie seiner letzten Opfer vergessen zu können.

Aber Situationen wie diese hier…

Blade sah Abigail zu, wie sie einen Schraubenschlüssel nahm und die Zielerfassung auszurichten begann. Sein erster und stärkster Impuls war der, sie allein zu lassen, damit sich jemand anders ihrer annehmen konnte.

Doch alle anderen waren tot.

Verdammt.

Blade überlegte einen Moment lang und empfand es als unangenehm, immer noch in der Tür zu stehen. Er kratzte sich am Kopf, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Was würde King in einer solchen Situation wohl sagen?

Schließlich drehte er sich wieder zu ihr um und gab ihr den einzigen Ratschlag, der ihm einfiel. „Lass nicht zu, dass es dich von innen auffrisst“, sagte er nur.

„Ist längst passiert“, gab Abigail zurück, ohne aufzusehen.

Blade zog die Augenbrauen hoch. Mit einer Antwort hatte er nicht gerechnet und ganz gewiss nicht mit einer so prompten. Es war fast so, als hätte Abigail nur darauf gewartet, dass er etwas sagte.

Er sah ihr zu, wie sie den Lappen zur Seite legte. Sie stand noch immer von ihm abgewandt da, stützte sich auf die Werkbank und sah aus dem Fenster in die Dunkelheit.