„Seit ich denken kann, steckt diese Klinge der Traurigkeit in meinem Herzen.“ Ihre Stimme war so leise, dass Blade sich anstrengen musste, um sie zu verstehen. Sie nahm wieder den Lappen in die Hand und begann, unsichtbare Fusseln von den Rändern zu wischen. „Solange die Klinge da steckt, bin ich stark und unantastbar. Aber sobald ich sie herausziehe…“ Sie drehte sich zu Blade um und sah ihm in die Augen. „Dann werde ich sterben.“
Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu und machte weiter, als sei Blade gar nicht da.
Er verharrte noch eine Minute lang in der Tür, doch Abigail hatte sich entschieden, ihn wieder zu ignorieren.
Er ging so schnell, wie er zu ihr gekommen war.
Abigail wartete, bis die Schritte des Daywalkers verhallt waren. Dann stand sie auf und ging eilig hinüber zum Schießstand.
Sie band sich den Köcher auf den Rücken, legte einen Pfeil an und zog die Sehne nach hinten, wobei sie spürte, wie sich die Muskeln in ihrem Arm bei der Belastung anspannten. Sorgfältig zielte sie auf ein dreidimensionales Ziel in Menschenform, das am Ende des Schießstands an einem Netz festgemacht war. Die Zeit schien stillzustehen, als sie ihre Position minimal korrigierte, das Fadenkreuz ihres Visiers mit dem Ziel in Einklang brachte, während der Bogen unter der Spannung vibrierte.
Dann ließ sie den Pfeil los.
Er schoss durch den Raum und bohrte sich gleich über dem Herz in die Brust ihres Ziels. Sie warf einen Blick auf die Uhr neben ihr, die mit einem Ballistikcomputer verbunden war. Der Pfeil hatte eine Geschwindigkeit von 73 Metern pro Sekunde erreicht.
Nicht schlecht.
Abigail schoss erneut. 82 Meter.
Schon besser, aber noch nicht gut genug.
91 Meter.
96 Meter.
100 Meter.
Der Computer piepte im gleichen Rhythmus, in dem sie einen Pfeil nach dem anderen abfeuerte, bis sie aufhören musste, weil sie ins Leere griff. Der Köcher war leer.
Sie betrachtete ihr Ziel und sah, dass sich das Dutzend Pfeile in die Stelle gebohrt hatte, die bei einem lebenden Ziel zum Tod geführt hätte, und dass sie die Form eines Kreuzes bildeten.
Das würde genügen.
Draußen stand Blade im Eingang und sah zu den Docks hinaus. Alle seine Sinne waren angespannt, während er auf Abigail wartete. Die nächtliche Brise vom Meer war eigentlich recht mild, doch Blade empfand sie als unangenehm kalt und feucht, da er die trockene Hitze der Innenstadt gewöhnt war. Er zog seinen Ledermantel enger um sich und trat auf der Stelle hin und her, damit er warme Füße bekam.
Vor nicht ganz zwanzig Minuten hatte Abigail einen Freund angerufen, der einen Platz für sie hatte, an dem sie bleiben konnten. Offenbar war dieser Kerl jetzt auf dem Weg, um sie abzuholen. Blade wünschte, er würde sich ein wenig beeilen. Je eher sie von hier fortkamen, desto besser. Das ganze Gebäude roch nach Blut, und zu seinem Entsetzen hatte Blade feststellen müssen, dass ihn der Geruch hungrig machte. Wenn Abigail in seinen Kopf hätte blicken können, dann hätte sie wahrscheinlich sofort einen Pfeil durch sein noch schlagendes Herz gejagt.
Er sah hinauf zum nächtlichen Himmel. Sie mussten von nun an ständig in Bewegung bleiben. Im alten Hauptquartier konnten sie nicht länger bleiben, da es nicht mehr sicher war. Vampire waren wie Wespen. Ließ man eine herein, würden schon bald immer mehr folgen. Für diese Nacht konnten sie bei Abigails Freund bleiben, am nächsten Tag würden sie dann wieder herkommen, um mit der langwierigen Aufgabe zu beginnen, die Ausrüstung der Nightstalker an einen anderen Ort zu bringen.
Blade schauderte, tat aber so, als würde es ihn nicht kümmern. Er befand sich jetzt auf unbekanntem Territorium. Er war nur so lange geblieben, bis er sicher sein konnte, dass Abigail in Sicherheit war. Whistler hätte es so gewollt.
Er konnte fortgehen, wann immer er wollte.
Abigail kam aus dem Gebäude und ging zu ihm, den Bogen und einen kleinen Beutel mit Vorräten in der Hand. Blade stand auf. Sie wirkte jetzt ruhiger und irgendwie auch größer. „Ich bin startbereit“, erklärte sie.
Gemeinsam warteten sie, dass der Freund auftauchte.
Kurz darauf waren in einiger Entfernung Scheinwerfer zu sehen. Dann näherte sich ein Land Cruiser, der sich durch die Überreste der Werft bewegte, als handele es sich um ein Schlachtschiff, dass durch einen Schiffsfriedhof manövrierte. Der Wagen war ein neueres Modell als Kings Cruiser, er war anders lackiert, und die Radkappen waren schwarz gestrichen. Auf dem Fahrzeug lag eine dünne Staubschicht, als sei er erst vor kurzem in der Wüste unterwegs gewesen.
Blade bemerkte Einschusslöcher in der Karosserie, die nur grob verspachtelt worden waren. Abigails „Freund“ war ausgesprochen interessant.
Der Land Cruiser hielt vor ihnen und der Fahrer ließ das Fenster herunter. Hinter dem Lenkrad saß ein glattrasierter Mann, der etwas jünger zu sein schien als Dex, es in Sachen gutes Aussehen aber mühelos mit ihm aufnehmen konnte. Er hob grüßend eine Hand. „Gestatten, mein Name ist Culder. Ich bin der Fahrer für heute Abend.“ Blade spürte, wie ihm schauderte. Minuten später glitt der Land Cruiser durch die Dunkelheit der nächtlichen Stadt. Blade lehnte sich auf seinem Sitz zurück und versuchte zu meditieren, während er aus dem Seitenfenster sah. Die Stadt huschte in Schemen aus Neonlicht vorbei. Er hörte das leise Klicken zweier Vampirzähne, die mit einer dünnen Schnur am Rückspiegel befestigt waren und die durch die Bewegungen des Fahrzeugs aneinander schlugen.
Blades Mundwinkel zuckten bei dem Anblick unwillkürlich nach oben. Das hätte Whistler gefallen.
Ein Gedanke ging ihm durch den Kopf, der seine Konzentration störte. Er berührte Culder an der Schulter und fragte: „Wohin fahren wir?“
„Zu einem anderen sicheren Ort.“ Culder drehte den Innenspiegel so, dass er Blade sehen konnte, dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße.
Blade brummte. Er wollte mehr wissen, aber die Atmosphäre im Cruiser war für eine eingehende Unterhaltung alles andere als förderlich. Dieser Culder war nicht sehr geschwätzig.
Unbewusst begann er, mit den Fingern einen Takt auf seinem Knie zu klopfen, während er sich daran zu erinnern versuchte, was King ihm über die Nightstalker gesagt hatte. Es schien alles so unendlich lange her zu sein…
Abigail drehte sich auf ihrem Sitz um und warf Blade einen scharfen Blick zu, woraufhin er sofort seine Finger ruhig hielt. Sie schob ihre Tasche mit den Vorräten unter den Vordersitz, dann wandte sie sich wieder Blade zu und beantwortete seine unausgesprochene Frage: „Wir haben es dir erzählt, Blade. Wir operieren mit Schläferzellen. Wenn die eine zerstört ist, wird eine neue Zelle aktiviert, um zu übernehmen.“
Sie sprach die Worte mechanisch, während sie versuchte, die Bilder zu ignorieren, die in ihrem Kopf entstanden. Wieder wandte sie sich ab und sah aus dem Fenster. Sie beobachtete, wie die Scheibe beschlug, sobald sie dagegen atmete.
Dass Blade in keiner Weise persönlich für den Tod ihrer Freunde verantwortlich war, wusste sie sehr wohl. Aber allein die Tatsache, ihn in ihrer Nähe zu haben, und das Wissen, dass er zum Teil Vampir war, sorgten dafür, dass sie sich unbehaglich fühlte. So als würden winzige, eiskalte Ameisen unter ihrer Haut umherkrabbeln. Sie hoffte, dass diese Fahrt bald vorüber war, damit sie etwas Zeit für sich bekam, um ihre Gedanken zu ordnen.
Sie fragte sich, wie ihr Vater mit Blade zurechtgekommen war. So weit ihr das bekannt war, hatte Whistler sich nicht weiter um Blades Herkunft gekümmert, sondern mit dem Daywalker unter einem Dach gelebt, als sei der einfach nur irgendein Haustier. Nach allem, was sie wusste, hatte Blade ihrem Vater nie absichtlich wehgetan, daher konnte sie nicht verstehen, warum sie solche Schwierigkeiten hatte, diesen Mann zu akzeptieren.
Gleichzeitig gingen ihr so viele Zweifel durch den Kopf. Wie sehr hatte Blade sich wirklich unter Kontrolle? Was geschah, wenn sein Serum aufgebraucht war? Wie weit konnte sie ihm vertrauen, dass er sich wie ein Teil des Teams verhielt?