Abigail sah hoffnungsvoll zu Culder, der die Fäuste in einer triumphierenden Geste hob, dann aber auf den Monitor zeigte, damit sie weiter zuhörte, was Sommerfield sagte.
„Um maximale tödliche Wirkung zu erzielen, müsst ihr es mit Drakes Blut versetzen. Wenn es funktioniert, sollte jeder Vampir in unmittelbarer Nähe praktisch auf der Stelle sterben.“
Blade richtete sich ein wenig auf und hörte aufmerksam zu.
„Danach dürfte es nur noch eine Frage von Wochen sein, bis sich das Virus über die ganze Welt ausgebreitet hat.“
Sie zögerte, als sei sie unschlüssig, wie sie am besten auf das nächste Thema zu sprechen kam. „Da ist noch etwas, Blade. Du solltest wissen, dass dieses Virus dich ebenfalls vernichten könnte. Da du ein Hybride bist, kann ich nicht sicher sagen, ob dein Immunsystem damit zurechtkommt.“ Sie sah zur Seite. „Es tut mir Leid“, fuhr sie fort. „Wir hatten keine Zeit, das Virus ausgiebig zu testen.“ Nach einem Blick hinter sich streckte sie ihre Hand zur Kamera aus, dann war nur noch ein Rauschen zu sehen.
Culder schaltete den Monitor aus, dann sahen er und Abigail zu Blade. Wie immer war dessen Miene völlig ausdruckslos. Gott allein mochte wissen, was in seinem Kopf vorging.
„Seht euch mal den Pfeil an“, sagte Culder und setzte damit dem schweigsamen Warten ein Ende. Sie hatten noch eine Menge zu tun.
Er holte ein Aluminiumkästchen aus dem Gefrierschrank, öffnete es und hielt es Blade hin. Im Inneren lag auf Styropor gebettet eine Glasampulle, in der sich das Seuchenvirus befand. Aus einem Ende der Ampulle ragte ein Mechanismus heraus, der an einen Pflock erinnerte und der dem Ganzen das Aussehen einer High Tech-Harpune verlieh.
Culder legte seine Hand über das Kästchen. „Ich hatte gerade genug Zeit, um eine kleine Menge DayStar herzustellen“, erklärte er. „Die Ampulle ist mit einem Druckluft-Projektil versehen, so dass man sie mit einem Gewehr oder einem Bogen abfeuern können sollte.“ Er lächelte ironisch und fügte mit bemüht lockerem Tonfall an: „Gebt euch nur Mühe, dass ihr ins Schwarze trefft. Für einen zweiten Versuch reicht es nicht.“
Abigail arbeitete mit Culder bis zum Morgengrauen, um die Ampulle mit größter Sorgfalt an der modifizierten Pfeilspitze zu befestigen.
Als sie fertig war, steckte sie den Pfeil behutsam in ihren Köcher und zog ihren Laptop aus der Tasche. Schnell markierte sie ein Dutzend Songs auf der Titelliste und verschob sie auf die MP3-Liste, dann schloss sie den Player an und kopierte die Stücke auf das Gerät. Während sie wartete, bis der Download abgeschlossen war, setzte sie ihre Ohrhörer ein und startete den Track „Atom Bomb“ von Fluke, dessen brodelndes Intro durch die Kabel bis in ihr Gehirn dröhnte. Abigail nickte zufrieden und ließ ihre Sinne von der Musik überspülen, während sie ihre Waffen zusammenstellte, um sich für den Kampfbereit zu machen.
Hinter ihr steckte Blade so viele von Culders maßgeschneiderten Waffen ein, wie er am Körper tragen konnte. Einen Silberpflock nach dem anderen schob er in die leeren Abteilungen seiner ledernen Waffengurte, die er um den Rumpf sowie um Arme und Beine trug. Dann lud er die Magazine seiner Schusswaffen mit Silberkugeln.
Schließlich polierte er sein Schwert, bis das Metall glänzte, hielt die Waffe ins Licht, um die Klinge auf Kerben zu untersuchen. Dann holte er einmal mit dem Schwert aus, was ihm einen beunruhigten Blick von Culder einbrachte, und ließ die Klinge dann mit einer fast prahlerischen Bewegung in der Scheide auf seinem Rücken verschwinden.
Es war wichtig für ihn, gut vorbereitet zu sein. Diesmal war es so weit. Das war der große Schlag, der Moment, auf den er sein Leben lang gewartet hatte. Seine Chance, alle Vampire in einem Zug auszulöschen. Er wollte kaum glauben, dass es wirklich möglich sein sollte, doch er wusste, dass er es zumindest versuchen musste. Morgen um diese Zeit würden Abigail und diese neue Zelle der Nightstalker entweder einen unglaublichen Sieg feiern, wie es ihn noch nie gegeben hatte, oder sie würden alle in ihrem eigenen Blut schwimmen.
So oder so sprach einiges dafür, dass Blade dabei umkommen würde.
Sein Leben für das der Menschen. Das war die simple Formel.
Minuten später wurde die Gasse vor der Aquarienhandlung vom lauten Dröhnen eines leistungsstarken Motors erfüllt. Blade kam auf einem umgebauten Motorrad vom Typ Buell Lightening XB12s aus der Garage gefahren und drehte den Gasgriff, um den Motor aufheulen zu lassen und die Kraft zu spüren, die sein Gefährt besaß. Obwohl er mit Waffen schwer beladen war, trug die Federung der Maschine mühelos sein Gewicht.
Während er auf Abigail wartete, bemerkte Blade, dass sich seine Silhouette im Licht der ersten Sonnenstrahlen im Schaufenster spiegelte. Er drehte seinen Oberkörper ein wenig, straffte die Schultern und schob die Sonnenbrille ein Stück nach unten.
Er sah auf der Maschine verdammt gut aus.
Wenn er diesen Tag überlebte, würde er vielleicht versuchen, sie zu stehlen.
Während er noch nachdachte, wurde ein zweites Motorrad in der dunklen Garage angelassen, dann kam Abigail auf ihrer Maschine zu ihm gefahren. Es war eine leichtere Maschine, eine Buell Firebolt, die für sie besser geeignet war. Sie drehte ebenfalls den Gasgriff, so dass das Motorengeräusch durch die Stille der Gasse brüllte. Sie trug eine Lederjacke und schwarze Handschuhe, die speziell für Bogenschützen geschnitten waren. Den Bogen hatte sie ebenso auf den Rücken geschnallt wie auch den einzigen Köcher mit den Pfeilen.
Blade warf ihr einen zufriedenen Blick zu, dann gab er Gas.
Gemeinsam fuhren die beiden der Sonne entgegen.
Die Zeit war gekommen.
17
Drake hockte vor Zoe und betrachtete das menschliche Mädchen, das vor ihm saß. Zoe erwiderte den Blick, ihre Augen wirkten in ihrem blassen Gesicht riesig.
Die Handschellen hatten ihr nicht gepasst, also hatte Drake sie mit einem Stück Kette an der Wand festgemacht. Die Kettenglieder rasselten jedes Mal, wenn sich die Kleine bewegte, um auf den kalten Bodenfliesen eine bequemere Sitzposition zu finden.
Drake legte den Kopf schräg und schnupperte, um ihren Geruch zu inhalieren, aber mehr aus Neugier als vor Hunger. Noch nie war er einem Kind so nah gewesen, ohne dass er es gegessen hätte. Das Mädchen war so zierlich, mit zarten Gesichtszügen und goldenen Locken, die zu einem Engel gepasst hätten und die ihr in einer vollen Welle auf die Schultern fielen. Arme und Beine wirkten so bemitleidenswert dünn, dass er keine Muskeln erkennen konnte, und ihr Hals war so schlank wie der eines Vogels. An ihr war praktisch nichts.
Drake konnte sich nicht vorstellen, wie so ein winziges Leben ohne fremde Hilfe überleben konnte. Und doch hatte diese kleine Kreatur sich heftiger zur Wehr gesetzt als die drei Erwachsenen, bis es ihm endlich gelungen war, sie zu schnappen. Gedankenverloren kratzte Drake an seinen Fingerknöcheln, obwohl die langen roten Striemen, die Zoe in seine Haut gerissen hatten, kaum verheilt waren.
Sie war ein freches kleines Ding. Das gefiel ihm.
Einen Moment lang sah er das Mädchen einfach nur an.
Sie hielt seinem Blick stand, das kleine Kinn hatte sie trotzig vorgeschoben, auch wenn ihre Unterlippe unübersehbar zitterte.
Es half nichts, Drake musste es herausfinden. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte er.
„Du bist der König der Gnome“, antwortete sie prompt.
„Der König der Gnome?“ Drake lächelte. „Das gefällt mir.“
Er dachte einen Moment lang nach, dann beugte er sich neugierig vor. „Sag, mein Kind. Möchtest du sterben?“
Zoe hatte Angst, zeigte sich aber so mutig, wie es ihre Mutter ihr beigebracht hatte. „Ich habe keine Angst. Ich komme in den Himmel.“
Drake begann zu lachen, jedoch klang Verbitterung darin mit.