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So ging es einfach nicht. Die beiden Titanen bewegten sich viel zu schnell, als dass Abigail sicher ihr Ziel hätte treffen können. Sie hatte keine freie Schussbahn, und sie konnte es auch nicht riskieren, Blade zu treffen.

Sie musste irgendeinen anderen Weg finden, und zwar schnell, da Blade anscheinend nicht mehr lange durchhielt.

Blade hatte überhaupt nicht bemerkt, dass Abigail in der Nähe war. Er kämpfte unverdrossen mit Drake, doch es wollte ihm nicht gelingen, seine Schulter aus den Fängen des Vampirs zu befreien. Drake knurrte, Blut sprudelte zwischen den Lippen hervor, während er seine langen Reißzähne tiefer in Blades Fleisch bohrte und sich in die Sehnen seiner Schulter verbiss. Je mehr Blade versuchte, sich von ihm zu befreien, desto fester biss Drake zu.

Keuchend griff Blade nach seinem Waffengurt und schaffte es, einen Pflock herauszuziehen. Er zog seine Schulter zurück und rammte den Pflock mit aller Kraft in Drakes ungeschützten Gehörgang. Der Vampir stieß einen gellenden Schrei aus und ließ Blade los, der sich zur Seite rollte und eine Hand auf seine Schulter presste, um die Blutung zu stoppen. Verzweifelt sah er sich im Zimmer um. Würde er doch nur an sein Schwert herankommen können…

Drake zog jaulend den Pflock aus seinem Kopf und schleuderte ihn wutentbrannt gegen die Wand. Sofort stürmte er wieder auf Blade zu und hob die Fäuste, um mit den Panzerhandschuhen den Kopf seines Widersachers zu zerschmettern.

Irgendwie gelang es Blade, sich zu ducken, so dass Drake nur einen Teil der Wand einriss und dabei ein Heizungsrohr beschädigte. Eine dichte Wolke kochenden Wasserdampfes trat mit hohem Druck zischend aus der Wand aus. Mit einem kehligen Wutgebrüll griff Drake in das Loch in der Wand und zerrte mühelos ein Rohrstück von gut zweieinhalb Metern Länge heraus.

Ehe Blade Zeit fand, sich aus dem Weg zu rollen, nahm Drake bereits mit seinem provisorischen Knüppel Maß und traf den Brustkorb des Daywalkers mit voller Wucht. Drake holte aus und attackierte erneut. Blade konnte sich nur mit knapper Not retten, weil Drake ihn verfehlte und stattdessen ein Loch in den Boden schlug. Wie ein Berserker versuchte der Vampir wieder, Blade zu treffen, aber der wich ein ums andere Mal aus, so dass nach und nach auch die restliche noch intakte Einrichtung vernichtet wurde.

Abigail rannte auf der Galerie hin und her, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, wie sie sicher den Pfeil abfeuern konnte. Der Raum war erfüllt vom Lärm der Zerstörung, die Drake anrichtete, indem er immer wieder nach Blade schlug, dabei aber nur Glas und Stahl zertrümmerte. Das Atrium war längst nur noch ein Trümmerfeld, das völlig von der Asche der abgeschlachteten Vampire überzogen war.

Selbst Abigail erkannte, dass der Daywalker allmählich mit seinen Kräften am Ende war. Sie sah, dass seine Versuche, Drake auszuweichen, durch Blutverlust und Erschöpfung immer schwerfälliger wurden. Gegen das schwere Metallrohr war sein Schwert nutzlos, dennoch machte er weiter und wich Drake hartnäckig aus, der immer wütender wurde. Als er Blade zum zehnten Mal in Folge verpasste, stieß er einen zornigen Schrei aus und fegte aus Frust eine kostbare Marmorstatue von ihrem Podest.

Abigail wusste, dass sie sich beeilen musste. Ein Treffer mit dem Rohr genügte, um Blades Schädel wie eine Eierschale zu zerquetschen.

In einem Anflug von Panik sah Abigail nach oben und bemerkte über sich eine Konstruktion aus Dachbalken, die sich über die gesamte Breite der Atriumdecke erstreckte und an der eine Reihe von Lampen befestigt war. Ihr kam eine Idee. Sie steckte den Pfeil mit der Ampulle zurück in den Köcher und befestigte den Bogen auf dem Rücken. Dann stellte sie sich auf das Geländer, balancierte einen Moment lang höchst bedenklich und überschlug mit geübtem Blick die Distanz.

Dann sprang sie los.

Einen Moment lang war ihr schwindlig, als sie über der Leere schwebte, doch dann bekam sie mit den Fingerspitzen eine der Stellen zu fassen, an denen sich zwei Balken kreuzten. Wie ein Pendel schaukelte sie hin und her, bis sie genug Schwung hatte, um zum nächsten Kreuzungspunkt zu springen. Mit jedem zurückgelegten Meter wurde sie selbstsicherer, bis sie sich so natürlich wie ein Affe zur Mitte des Raums hangeln konnte. Sie gab sich alle Mühe, nicht daran zu denken, dass sich der Boden mindestens zehn Meter unter ihr befand. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den gleichmäßigen Rhythmus ihrer Vorwärtsbewegung.

Es war gar nicht so schwer, sondern erinnerte sie daran, wie sie sich als Kind auf dem Spielplatz von Stange zu Stange gehangelt hatte.

Auf einmal gab es einen Knall, und am Geländer vor ihr flogen Funken. Abigail erschrak so, dass sie fast danebengegriffen hätte. Einen Moment lang schaukelte sie auf der Stelle, sah nach unten und entdeckte zwei Vampirwachen, die mit ihren Pistolen auf sie feuerten. Sie versuchten, sie abstürzen zu lassen.

Sie drehte sich mitten in der Luft, hatte aber keine Chance, den Kugeln auszuweichen, die auf sie abgefeuert wurden.

Sie war völlig ungeschützt. Das andere Ende der Balkenkonstruktion war noch gut zwanzig Meter entfernt. Bis dorthin würde sie es niemals schaffen.

Abigail holte tief Luft, bereit für den nächsten Sprung. Die Blutsauger würden ihr schon eine Kugel in jeden Teil ihres Körpers jagen müssen, wenn sie sie zum Aufgeben zwingen wollten. Es hing einfach zu viel von ihr ab, sie konnte nicht aufgeben, nur um ihr Leben zu retten.

So plötzlich das Feuer auf sie eröffnet worden war, so abrupt stoppte es auch wieder. Sie wagte einen weiteren Blick nach unten und sah, dass die beiden Vampire soeben in einer Explosion aus blauem Licht vergingen. Sie schaute zur Tür und entdeckte… „King!“ Noch nie war sie so froh gewesen, jemanden wiederzusehen. Der Vampirjäger stand oben auf der Empore des Atriums und gab Abigail Feuerschutz, damit sie ihre Mission erfüllen konnte. Ihr Schutzengel. Dann jedoch…

Abigail rief ihm eine Warnung zu, doch es war schon zu spät. Hinter King war ein Schatten aufgetaucht. Danica stand mit einem Mal hinter ihm. Durch das atomisierte Silber, das sie eingeatmet hatte, qualmte ihre Haut.

Mit einem zornigen Knurren bekam sie King zu fassen und rang ihn zu Boden.

King wehrte sich, doch er war zu erschöpft, während sich Danica hatte erholen können und außerdem frisches Blut benötigte. Ein Mensch konnte es selbst unter besten Umständen nicht mit bloßen Händen mit einem Vampir aufnehmen. Nach Kings Gesichtsausdruck zu urteilen, war ihm diese Tatsache nur zu bewusst. Hilflos musste Abigail mit ansehen, wie er sich in ihrem Griff wand und mit der E-Pistole fuchtelte, um auf Danicas Gesicht zielen zu können.

Mit dem Handballen wehrte sie seinen Versuch jedoch ab und bekam den Lauf der Waffe zu fassen, und dann hatte sie sie ihm auch schon abgenommen. In einer raschen Bewegung ließ sie das Magazin herausgleiten, so dass sich Kings Sundog-Kugeln auf dem Boden verteilten, die sie schließlich auch noch wegtrat, damit er keine Chance hatte.

Mit einem höhnischen Grinsen schleuderte sie die nutzlos gewordene Waffe fort und wandte sich King zu. Sie packte den blutbeschmierten Vampirjäger am Kragen, drückte seinen Kopf nach hinten und bleckte ihre Reißzähne…

19

Abigail hing mehr als zehn Meter über dem Boden in der Luft und versuchte, ihre letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Schweißtropfen brannten ihr in den Augen, als sie nach unten blickte.

Das hätte sie besser nicht getan.

Sie winkelte die Knie an und schwang wie ein Pendel hin und her. Jeder Muskel in ihrem Leib schmerzte. Sie musste es zur anderen Seite schaffen und King retten, ehe Danica ihn ein für allemal zur Hölle schickte.

Abigail hielt inne. Was war mit dem Pfeil? Was, wenn Drake Blade umbrachte und auf Nimmerwiedersehen verschwand?

Sie zögerte und verzog das Gesicht aus Wut über ihre Unentschlossenheit. Ihre Hand begann abzurutschen. Ihr Arm zitterte, weil er ihr ganzes Gewicht tragen musste. Sie gab sich einen Ruck und bekam den nächsten Querbalken zu fassen. Dann hing sie einen Moment lang zwischen beiden Balken, um zu verschnaufen. Dabei stachen sich winzige Metallsplitter durch ihre Lederhandschuhe in die Fingerspitzen, Blut vermischte sich mit Schweiß und machte es ihr noch schwieriger, sich festzuhalten. Ehe sie sich von der Stelle bewegen konnte, peitschte ein weiterer Schuss durch den Raum. Das Geschoss prallte von der Decke ab.