Abigail sah nach unten. Was war nun los?
Sie schrie vor Schmerz auf, als eine zweite Kugel ihre Schulter traf und sie beinahe dazu brachte, einfach loszulassen. Sie fing sich gerade noch und atmete schwer. Die Kugel hatte ihre Schulter zum Glück nur gestreift, dennoch ging eine Schockwelle durch ihren Arm, der ihre Hand sofort taub werden ließ. Sie biss die Zähne zusammen, so fest sie nur konnte, und schaffte es, mit der anderen Hand den nächsten Querträger zu fassen zu bekommen. Schweißgebadet wagte sie einen Blick nach unten.
Asher stand dort drüben und hatte ein altmodisches Gewehr auf sie gerichtet. Hilflos sah sie mit an, wie er sorgfältig zielte und darauf achtete, dass sie genau in seinem Fadenkreuz auftauchte. Da sie immer noch leicht hin und her schaukelte, bewegte er den Lauf ein wenig zur Seite, um sich auf ihre Vorwärtsbewegung einzustellen.
Dann drückte er ab.
Hinter ihr ging King zu Boden, als Danica ihn mit einer ganzen Salve von Haken traktierte. Ihren ersten Angriff hatte er noch mit einer gezielten Kopfnuss abwehren können, der mit einem Aufschrei und einem Knacken belohnt worden war, das sich nach einem gebrochenen Knochen angehört hatte. Nun aber hatte sie ihn am Hals gepackt und prügelte ihn grün und blau.
King rollte sich auf den Rücken, wischte sich mit einer Hand über sein angeschwollenes Gesicht und spuckte einen Splitter aus, der von einem seiner Zähne stammte. Die Lichter über ihm schienen sich zu drehen, als er versuchte, sich auf Danica zu konzentrieren. Sie ragte hoch über ihm auf und krempelte die Ärmel hoch, als würde sie jetzt erst richtig anfangen.
Er stöhnte auf und kam auf die Beine, wobei er wie ein Betrunkener schwankte. „Nimm’s nicht persönlich, Danica, aber ich wollte dich schon töten, nachdem ich mit dir geschlafen hatte.“
Danica hob eine Augenbraue. „War ich so schlecht?“
King täuschte einen plumpen Haken an, dem sie nach hinten auswich, und hob seine Waffe vom Boden auf. Er zielte auf sie, doch Danica begann zu lachen.
„Keine Munition mehr, King.“
Er lächelte breit, wenn auch blutverschmiert. Dann deaktivierte er die magnetische Sicherung, drückte den Rücken durch und sah Danica mit hasserfüllten Augen an. „Stimmt, aber das ist nicht so schlimm. Diese Babys lassen sich fernzünden.“
Bevor Danica sich rühren konnte, hatte King bereits den Abzug durchgezogen.
Mit einem leisen Klick und einem Aufheulen wurden die Sundog-Kugeln aktiviert. Binnen Sekunden glühten sie grellweiß. Und dann explodierten sie.
Ein gleißender blauer Blitz aus UV-Licht ließ Danica kreischend die Hände hochreißen, um ihre Gesicht vor dem tödlichen Leuchten zu schützen, doch sie war nicht schnell genug. Der Gestank von brennendem Fleisch breitete sich aus, während Danica vor Erstaunen und Schmerz aufschrie. Mit qualmendem Gesicht wandte sie sich ab und stolperte durch eine Tür davon.
King ließ sie entkommen. Dass sie sterben musste, wa ihm klar. Aber nicht so leicht. Er wollte, dass sie erst noch litt. Er zog seine letzte Sundog-Kugel aus dem Magazin, machte sie mit einem Fingerschnippen scharf, dann schob er sie in die Pistole.
Um das Miststück würde er sich später kümmern, diese letzte Kugel war dagegen für ihren elenden Bruder bestimmt.
King kroch ein Stück nach vorn und hielt sich mit einer blutigen Hand am Metallgeländer fest, damit er auf Asher zielen konnte, der auf der anderen Seite des Raumes stand und mit seinem Gewehr auf Abigail zielte. Ohne zu zögern drückte King ab.
Die Sundog pfiff durch das Atrium und traf Asher genau in den geöffneten Mund. Der Einschlag der Kugel riss ihn mit und schleuderte ihn ein Stück weit nach hinten. Er ließ sein Gewehr fallen und griff hektisch nach seinem Mund, während ein dünnes Blutrinnsal zwischen seinen Lippen hervortrat.
Dann explodierte die Kugel. Grelles blaues Licht leuchtete aus Mund und Augenhöhlen, als Ashers Kopf von tödlichem UV-Licht erfüllt wurde. Er kippte schreiend und zuckend vornüber, als sein Kopf in sich zusammenfiel und dann in einem kleinen Feuerball explodierte. Sein kopfloser Rumpf fiel weiter nach vorn und stürzte über das Geländer. Während er nach unten stürzte, ging sein ganzer Körper in Flammen auf.
Erleichtert sank King auf die Knie.
Sein Job war erledigt.
Der Krieg war aber noch nicht vorüber. Unten im Atrium war Blade dem Tode nah. Allen Anstrengungen des Daywalkers zum Trotz schleuderte Drake ihn umher, als sei er eine große Puppe.
Blade segelte durch die Luft, schlug sich den Kopf an der Metallkante der Empore auf und stürzte dann gut zehn Meter in die Tiefe. Seine Sinne rasten, als die Schockwelle des Aufpralls sich durch seine Wirbelsäule fortpflanzte. Jede Zelle seines Körpers schien von ihrem angestammten Platz fortgezerrt worden zu sein, er war zu Tode erschöpft und konnte kaum noch klar denken – und doch wusste er, dass er sich weiter bewegen musste.
Stöhnend nahm Blade die wenige noch verbliebene Kraft zusammen und versuchte, sich auf die Seite zu rollen. Sein Körper rebellierte, seine geschundenen Muskeln legten Protest ein. Er hatte das Gefühl, als würde sich sein Körper durch eine dicke, klebrige Teermasse bewegen. Das eisige Stechen in seiner verletzten Schulter war zu einem dumpfen Schmerz abgeklungen, aber aus der tiefen Wunde lief weiterhin Blut, was ihn zusätzlich Kraft kostete und seine Körperpanzerung mit einer warmen, klebrigen Flüssigkeit überzog.
Blade wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten konnte.
Während er sich wieder aufrichtete, warf Drake das Rohr weg. Dann packte er Blade, zerrte ihn hoch und drückte ihn gegen die Wand. Die Wucht des Aufpralls presste Blade die Luft aus den Lungen. Er konnte nicht länger die nötige Kraft aufbringen, um sich gegen den Fausthieb zu wehren, den Drake in seine Magengegend rammte. Gleich anschließend landete er einen Treffer an seinem Kopf, der Blade an die Wand hinter ihm schleuderte. Vor Blades Augen zuckten grelle Blitze, während Drake ihn wieder und wieder schlug und all seine Wut an dem Daywalker ausließ.
Verzweifelt holte Blade aus und stach seine Finger in Drakes Augen. Der Vampir schrie auf und hob die Hände, um Blade zur Seite zu schlagen. Er taumelte nach hinten, dann rammte er im Stile eines Hulk die beiden Panzerhandschuhe in den Boden und zerschmetterte einen großen Teil des Kalksteinbodens, um seiner Wut und brutalen Kraft Ausdruck zu verleihen. Fliesen wurden durch die Wucht des Treffers in die Luft gewirbelt.
Blade verlor den Halt durch die Erschütterung und landete rücklings auf dem zerstörten Fußboden. Als sein Kopf auf den Steinen aufschlug, blitzte vor seinen Augen ein greller Stern auf und der Raum um ihn herum begann zu verschwimmen. Trotz der Pein trieb Blades Verstand dahin, losgelöst vom Schmerz, und auf eine sonderbar ruhige Weise wurde ihm klar, dass er in einen Schock verfiel. Schwarze Punkte entstanden am Rand seines Gesichtsfelds, als die Dunkelheit begann, sich über den kleinen Rest von Bewusstsein zu legen, das ihm noch geblieben war.
Er holte zittrig Luft. Er kämpfte darum, nicht bewusstlos zu werden, als Drake auf ihn zuschritt und dabei das Bein einer Marmorstatue wie einen Baseballschläger schwang.
Ein einziger Gedanke ging Blade durch den Kopf.
Wo zum Teufel war Abigail?
Hoch über ihnen bewegte sich Abigail an den Trägern weiter, bis sie die Mitte des Atriums erreicht hatte. Sie ignorierte dabei den Schmerz in ihrer Schulter und hakte ihre Knie über dem Deckenträger ein, damit sie die Hände frei hatte.
Kopfüber hängend griff sie hinter sich und zog den Bogen aus seiner Scheide, um ihre Mission zu erfüllen. Es gab jetzt kein Zurück mehr. Sie nahm den Bogen in die andere Hand und klappte ihn leise auseinander. Doch ihre Haltung bewirkte, dass Blut von ihrer Schusswunde am Schlüsselbein entlang lief und ihr in die Augen tropfte. Sie blinzelte gereizt und begann, die brennende Flüssigkeit wegzuwischen. Dabei lockerte sich jedoch der Gurt um ihren Köcher, mehrere Pfeile rutschten heraus und fielen nach unten, ehe sie sie aufhalten konnte.