Reflexartig griff Abigail nach ihnen und bekam einige gerade noch zu fassen, bevor sie außer Reichweite waren – auch den Pfeil mit der Ampulle. Sie erstarrte und hielt den Pfeil fest umklammert, während ihr Puls in den Ohren hämmerte. Schweißtropfen liefen ihr über die Stirn, und sie kniff die Augen zu. Sie musste den Gedanken verdrängen, was wohl geschehen wäre, wenn sie ihn nicht mehr hätte fassen können.
Einen Augenblick später löste sie sich aus ihrer Starre und bewegte sich wie in Zeitlupe, als sie die geretteten Pfeile zurück in den Köcher schob. Drake war so in seinen Kampf mit Blade vertieft, dass er von den Pfeilen, die zu Boden gefallen waren, offenbar nichts mitbekommen hatte. Abigail legte den Pfeil mit der Ampulle wieder an und holte tief Atem. Sie hatte nur diese eine Chance, und die würde sie nutzen müssen, während sie kopfüber hing.
Sie musste blinzeln, weil ihr wieder Blut ins Auge lief, gleichzeitig vollzog sie jeden von Drakes Schritten nach. Sie musste nur darauf warten, dass er sich zu ihr umdrehte und ihr die ungeschützte Brust darbot.
Unter ihr tobte der Kampf mit unverminderter Härte weiter. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als Drake Blade hochhob und dann mit dem Kopf voran auf die zerschmetterten Fliesen warf. Der Daywalker bewegte sich nur noch träge, er war blutüberströmt. Drake rammte seine Schulter ein paar Mal gegen eine Säule dicht neben dem am Boden liegenden Blade und brach sie in der Mitte durch. Abigail stieß einen ersticken Schrei aus, als ein Teil des Metallgangs von der Empore wegbrach und auf Blade stürzte.
Für Drake war dieses Finale offenbar noch immer nicht dramatisch genug. Knurrend sprang er auf den Schutthaufen und zog Blade aus den Trümmern. Der hing so schlaff in Drakes Griff wie ein toter Fisch an der Angel. Mit einem boshaften Grinsen verpasste Drake dem Daywalker eine Kopfnuss, die ihm eine gebrochene Nase bescherte. Blut spritzte umher, und Drake stieß ein triumphierendes Geheul aus, als der Körper seines Feindes krampfartig zu zucken begann, da der Schmerz ihn gegen seinen Willen wieder zu Bewusstsein kommen ließ.
Drake entdeckte Blades Schwert, das gut einen Meter entfernt lag. Er hob es auf, gleichzeitig ließ er seinen Gegner achtlos zu Boden sinken. Seine Augen funkelten, während er mit der Waffe so ausholte, als wollte er Blade in zwei Hälften zerteilen.
Als Blade hörte, wie sein Schwert – sein Schwert! – die Luft zerschnitt, riss er die Augen auf. Sein Körper war augenblicklich wieder von Leben erfüllt, und er warf sich zur Seite. Die Klinge verfehlte ihn um Haaresbreite und bohrte sich stattdessen in die Trümmer.
Drake stieß ein wütendes Zischen aus, zog das Schwert heraus und schlug noch einmal zu.
Doch diesmal hatte Blade nicht schnell genug reagiert. Die Klinge traf seine Rippen und schnitt sich sauber durch seine Schutzkleidung, Blut spritzte umher. Die Wucht des Treffers wirbelte Blade um seine eigene Achse und ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Er sackte auf die Knie, während das Blut aus der Wunde an seiner Seite strömte.
Hoch oben unter der Decke schlug Abigails Herz noch schneller, als sie sah, wie Drake Blade förmlich abschlachtete. Sie konnte nicht noch länger warten. Eine Minute länger, und Blade würde tot sein.
Diese Befriedigung wollte sie Drake nicht gönnen.
Sie bewegte sich so schnell, wie sie es für vertretbar hielt, und hob den Bogen hoch. Zwei Finger legte sie unter die Sehne und zog sie nach hinten, dann löste sie mit der anderen Hand die automatische Erfassung. Die Sehne zitterte, als die ganze Kraft des gespannten Bogens auf ihrem verletzten Arm ruhte. Ihre Muskeln protestierten, doch der Arm hielt der Belastung stand. Sie zielte auf Drake, als er wieder mit dem Schwert nach Blade schlug und den erschöpften Daywalker nur um Zentimeter verfehlte, weil er sich abermals zur Seite geworfen hatte.
Jetzt oder nie.
Abigails Augen brannten, als sich erneut ein wenig Blut in ihnen sammelte, doch sie wagte es nicht, es wegzuwischen. Blinzeln war das Einzige, was sie sich gestattete. Sie atmete ein, um zur Ruhe zu kommen, dann richtete sie die dunkle Spitze des Pfeils auf Drake. Der hob in diesem Moment das Schwert hoch über seinen Kopf, bereit, es in den Leib seines Gegners zu jagen, der zu keiner Regung mehr fähig war. Für den Bruchteil einer Sekunde war Drakes Oberkörper ungeschützt.
Abigail konnte ihr Glück kaum fassen. Das war die perfekte Gelegenheit.
Sie ließ die Sehne los.
Der Pfeil schoss mit mehr als neunzig Metern pro Sekunde auf Drake zu. Abigails Herz setzte einen Schlag lang aus, als sie zusah, wie sich das Geschoss unaufhörlich seinem Ziel näherte.
Im allerletzten Augenblick aber bewegte Drake den Schwertarm ein wenig, so dass die Schussbahn mit einem Mal blockiert war.
Der Pfeil traf das Heft des erhobenen Schwerts, prallte ab und landete keinen halben Meter neben Blade auf dem Boden.
Abigails Hoffnung war zerstört worden. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich tiefe Verzweiflung ab. Alles war umsonst gewesen.
Drake vollzog seine Bewegung weiter, ohne aufzublicken, und rammte das Schwert in Blades Seite. Die Spitze der Klinge trat am Rücken wieder aus und bohrte sich in den Fußboden, wobei sie deutlich hörbar eine Fliese zerbrach. Abigail verkniff sich einen Entsetzensschrei, als sie sah, wie Blade nach Luft schnappte und von seiner eigenen Waffe durchbohrt zusammensank.
Das war’s.
Drake stieß einen Triumphschrei aus, gleichzeitig begann er sich zu verwandeln. Seine menschlichen Gesichtszüge lösten sich auf, als Blut dicht unter seine Haut strömte und seiner Haut eine tiefe, karmesinrote Farbe verlieh.
Hilflos musste Abigail miterleben, wie sich sein ganzer Körper umformte und sich sein Skelett vor ihren Augen neu anordnete. Sein Kiefer wurde länger, als sich gewaltige Reißzähne aus dem Zahnfleisch schoben, die seine Lippen teilten und an beiden Seiten seines Kiefers nach unten wuchsen. Krallen, so hart wie Stahl, platzten aus den Fingerspitzen hervor und verteilten eine feinen blutigen Nebel, knochige Sporne traten überall an seinem Körper aus und bildeten zusammen eine Haut aus rasiermesserscharfen Dornen. Ein abscheuliches Knacken und Krachen war zu hören, als sich Drakes Kniegelenke und Knöchel drehten und ihre Beugerichtung umkehrten, bis sie mit einem grässlichen Geräusch regelrecht einzurasten schienen.
Drake wandte sich um und begann, ein lautes Heulen auszustoßen, wobei er ein Gebiss präsentierte, dass die Reißzähne eines gewöhnlichen Vampirs daneben wie die Zähnchen eines frisch geborenen Kätzchens wirkten. Seine Pupillen färbten sich blutrot, seine Haut war im nächsten Moment von dornenbewehrten Schuppen überzogen, einem knöchernen Schutzpanzer gleich.
Endlich hatte Drake sein wahres Aussehen enthüllt.
Nach siebzig Jahrhunderten der Gewalt und der Jagd stand Drake nun als der reine, zu Gestalt gewordene Tod inmitten der Überreste des Atriums. Seine schuppigen Lippen verzogen sich zu einem animalischen Grinsen, als er die angerichtete Verwüstung betrachtete.
Ihm gefiel, was er sah.
Hinter ihm war ein leises Geräusch zu hören. Drake drehte sich um und kniff die Augen zusammen, als er feststellte, dass der jämmerliche Daywalker immer noch lebte. Er kroch durch den Schutt langsam, aber beharrlich auf ihn zu. Mit einem spöttischen Grinsen hob Drake abermals das Schwert, um dem besiegten Jäger endgültig den Rest zu geben. Die Klinge funkelte hoch über seinem Kopf und zeigte tausend strahlende Spiegelbilder in der polierten Oberfläche.
Darunter auch das einer winzigen Gestalt, die sich von hinten an ihn heranschlich…
Das Schwert hatte soeben den höchsten Ausholpunkt erreicht, da trat Zoe hinter Drake aus dem Schatten. Ehe der Meister der Vampire darauf reagieren konnte, rannte sie auf ihn zu und stach ihm ihren Silberpflock so fest und tief in den Oberschenkel, wie sie nur konnte.
Drake geriet ein wenig ins Wanken, da das Silber sein Fleisch versengte. Er wandte sich kurz zu der Kleinen um und zischte ihr wie eine Schlange nach. Zoe schrie auf, als die alptraumhafte Bestie sich ihr näherte und nach ihr mit den Kiefern schnappte, während sie versuchte, das Kind zu fassen zu bekommen.