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Die Möglichkeit, bei Ost-Pavonis aufgehalten zu werden, veranlaßte sie, sich in das westliche Umland von Lastflow zu begeben, indem sie sich wie am Vortag entgegen dem Uhrzeigersinn um den Krater bewegte und die Rote Streitmacht von hinten erreichte — auf jeden Fall die bestmögliche Annäherung. Es war eine Fahrstrecke von ungefähr 150 Kilometern von Lastflow bis zum Westrand von Sheffield. Während sie um den Gipfel raste, knapp oberhalb der Piste, verbrachte sie die Zeit damit, die verschiedenen Gruppen, die auf dem Berg stationiert waren, zu erreichen; aber ohne Erfolg. Explodierende statische Störungen markierten den Kampf um Sheffield, und durch diese brutalen Stöße von weißem Rauschen brachen Erinnerungen an ’61 hervor und erschreckten sie. Sie fuhr den Rover mit Höchstgeschwindigkeit und hielt ihn auf der schmalen Außenseite der Piste, um glatter und rascher voranzukommen, mit etwa hundert Kilometern in der Stunde und dann noch schneller, in dem Versuch, einen Bürgerkrieg abzuwenden, der eine traumhaft entsetzliche Bedrohung darstellte. Ganz besonders deshalb, weil es beinahe zu spät war. In Momenten wie diesem war sie immer zu spät dran. Im Himmel über der Caldera erschienen plötzlich sternförmige Explosionswolken — ohne Zweifel durch Raketen verursacht, die auf das Kabel abgeschossen worden waren und mitten im Flug getroffen wurden. Weiße Wölkchen wie von einem fehlgezündeten Feuerwerk ballten sich über Sheffield und verpufften über dem ganzen weiten Gipfel; trieben dann mit dem Jetstrom nach Osten davon. Einige dieser Raketen wurden noch weit von ihrem Ziel ab, das einmal das Kabel sein sollte, erledigt.

Während sie die Schlacht über sich beobachtete, fuhr sie fast in die schon durchlöcherte erste Kuppel von West-Sheffield hinein. Als die Stadt sich nach Westen ausdehnte, waren neue Kuppeln an die früheren angefügt worden wie Lavaklumpen, die aneinander hafteten. Jetzt waren die Bau-Moränen außerhalb der jüngsten Kuppel mit Gerüststücken, die wie Glasscherben wirkten, bestreut, und das Kuppelmaterial fehlte in den verbliebenen städienartigen Gebilden. Anns Rover hüpfte wild über einen Haufen Basaltgeröll. Sie bremste scharf und hielt dicht an der Mauer. Die Türen des Fahrzeugs waren noch immer verschlossen. Sie legte ihren Schutzanzug und Helm an, kletterte die Stadtmauer empor und darüber, hinein nach Sheffield.

Die Straßen waren verlassen. Glasscherben, Ziegel, Bambusstücke und Magnesiumträger lagen verstreut auf dem Rasen. In dieser Höhe platzten beschädigte Häuser wie Ballons, wenn die Kuppel zerstört war. Fenster gähnten leer und finster; und hier und da lagen ganze Rechtecke nicht zerbrochener Fenster herum wie große durchsichtige Schilde. Und auch eine Leiche, das Gesicht mit Reif oder Staub bedeckt. Es würde eine Menge Tote geben. Die Menschen pflegten sich keine Gedanken mehr über die Dekompression zu machen, die eine ausgeprägte Furcht bei den alten Siedlern gewesen war. Das war heute anders.

Ann ging weiter nach Osten. »Ich suche Kasei oder Dao oder Marion oder Peter«, rief sie immer wieder in ihr Handy. Niemand antwortete.

Sie folgte einer schmalen Straße knapp innerhalb der Südwand der Kuppel. Grelles Sonnenlicht und scharfe schwarze Schatten. Einige Gebäude hatten standgehalten. In ihnen brannte noch Licht. Aber natürlich war drinnen niemand zu sehen. Voraus war das Kabel schwach sichtbar als ein schwarzer vertikaler Strich, der von Ost-Sheffield in den Himmel gezeichnet war wie eine geometrische Linie auf dem Bildschirm, die nun Realität erlangt hatte.

Das rote Notsignal wurde in rasch wechselnder Wellenlänge gesendet, synchron für jeden, der Kenntnis der jeweiligen Verschlüsselung hatte. Dieses System durchschnitt sehr gut manche Art der Funkstörung. Dennoch war Ann überrascht, als von ihrem Handgelenk eine Stimme krächzte: »Ann, hier ist Dao. Hier oben.«

Er war tatsächlich zu sehen und winkte ihr aus dem Eingang der kleinen Notschleuse eines Gebäudes zu. Er und eine Schar von etwa zwanzig Personen arbeiteten an drei mobilen Raketenwerfern draußen in der Straße. Ann rannte zu ihnen hin und duckte sich neben Dao in den Eingang. Sie schrie: »Das hier muß gestoppt werden!«

Dao machte ein überraschtes Gesicht. »Wir sind fast bis zur Muffe gelangt.«

»Aber was dann?«

»Sprich darüber mit Kasei! Er ist vor uns oben, unterwegs nach Arsiaview.«

Eine ihrer Raketen fauchte los. Das Geräusch war in der dünnen Luft schwach. Dao war wieder dabei. Ann rannte die Straße weiter hinauf und hielt sich, so dicht sie konnte, an den Flanken der Häuser. Das war ganz offensichtlich gefährlich; aber in diesem Moment kümmerte sie sich nicht darum, ob sie getötet werden würde oder nicht. Sie hatte keine Angst. Peter war irgendwo in Sheffield und hatte das Kommando über die grünen Revolutionäre, die von Anfang an hier gewesen waren. Diese Leute waren schlau genug gewesen, um die Kräfte der UNTA am Kabel und oben auf Clarke gefangen zu halten. Darum waren sie keineswegs die glücklosen pazifistischen jungen eingeborenen Straßendemonstranten, für welche Kasei und Dao sie anscheinend gehalten hatten. Anns geistige Schüler, die eine Attacke auf ihr einziges Kind ritten, und das im vollen Vertrauen, ihren Segen zu haben. Wie sie ihn früher gehabt hatten. Aber jetzt...? Sie bemühte sich weiterzulaufen. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, Schweiß rieselte ihr über die Haut. Sie eilte zur Südwand der Kuppel, wo sie auf eine kleine Flotte von Felsenwagen stieß, Turtle Rocks aus der Wagenfabrik von Acheron. Aber niemand darin antwortete auf ihre Anrufe; und bei näherem Hinschauen sah sie, daß sämtliche Frontscheiben unter den steinernen Wagendächern durchlöchert waren. Alle Insassen waren tot. Ann rannte in zunehmender Panik weiter nach Osten und hielt sich nahe der Kuppelmauer, ohne auf den Schutt unter ihren Füßen zu achten. Sie war sich bewußt, daß ein einziger Schuß sie töten konnte; aber sie mußte Kasei finden. Sie versuchte es wieder mit dem Handy.

Während sie damit beschäftigt war, ging ein Anruf ein. Es war Sax. »Es ist nicht logisch, das Schicksal des Aufzugs mit Zielen des Terraformens zu verknüpfen«, sagte er, als ob er zu mehr Leuten spräche als nur zu ihr. »Das Kabel könnte an einem ganz kalten Planeten befestigt werden.«

Das war der Sax, der er früher gewesen war. Aber dann mußte er bemerkt haben, daß sie eingeschaltet war; denn er blickte eulenhaft in die kleine Kamera an seinem Handgelenk und sagte: »Hör zu, Ann! Wir können die Geschichte am Arm packen und ihn brechen, und es schaffen. Es neu machen.«

Ihr alter Sax hätte das nie gesagt. Er hätte auch nicht zu ihr geschwatzt, offenbar zerstreut, bittend, sichtlich nervös. Wirklich einer der erschreckendsten Anblicke, die sie je erlebt hatte. Tatsächlich: »Sie lieben dich, Ann. Das kann uns retten. Emotionale Geschichten sind die wahren Geschichten. Wasserscheiden von Verlangen und Devolution, Devotion. Du bist für die Eingeborenen die Personifizierung gewisser Werte. Dem kannst du nicht entrinnen. Du mußt damit handeln. Ich habe das in Da Vinci getan, und es hat sich als hilfreich erwiesen. Jetzt bist du an der Reihe. Du mußt! Ann, du mußt dich diesmal mit uns allen zusammentun. Zusammen oder getrennt bleiben. Benutze deinen Wert als Ikone!«

Seltsam, so etwas von Saxifrage Russell zu hören. Aber dann veränderte er sich wieder und schien sich zusammenzunehmen. »Logisch ist es, eine Art von Gleichung für gegensätzliche Interessen aufzustellen.« Wieder ganz wie sein altes Selbst.

Danach piepte es an ihrem Handgelenk, und sie schaltete Sax aus und beantwortete den eingehenden Anruf. Es war Peter, auf der Frequenz der Roten, mit einer finsteren Miene, wie sie sie noch nie bei ihm gesehen hatte.

»Ann!« Er blickte fest auf sein Handy. »Mutter, hör zu! Ich will, daß du diesen Leuten Einhalt gebietest!«

Sie platzte heraus: »Red mich nicht als Mutter an! Ich versuche es gerade. Kannst du mir sagen, wo sie sind?«

»Darauf kannst du Gift nehmen, daß ich das kann! Sie sind gerade in die Kuppel von Arsaview eingebrochen. So wie sie vorrücken, sieht es aus, als ob sie versuchten, von Süden her an die Sockelmuffe heranzukommen.« Er erhielt diese Nachricht von irgendwem außer Sicht der Kamera. »Stimmt.« Er sah sie wieder an. »Ann, kann ich dich mit Hastings oben auf Clarke in Verbindung bringen? Wenn du ihm sagst, daß du versuchst, den Angriff der Roten aufzuhalten, könnte er glauben, daß es nur einige wenige Extremisten sind und sich heraushalten. Er wird tun, was er tun muß, um das Kabel oben zu halten; und ich fürchte, daß er uns alle zu töten bereit ist.«