Ein blendender Blitz, und sie wurde umgeworfen. Ihre Ohren dröhnten. Sie befand sich am Fuß eines Gebäudes, gegen seine Seite aus poliertem Stein gepreßt. Roter Jaspis und Eisenoxid in abwechselnden Reihen. Hübsch. Rücken, Hinterteil und Schulter sowie Ellbogen schmerzten. Aber es war nicht unerträglich, und sie konnte sich bewegen. Sie kroch herum und schaute auf den Dreieckspark zurück. Rund um die Einschlagstelle brannte es. Die zuckenden kleinen Flammen erloschen bereits durch Sauerstoffmangel. Die Gestalten waren weggeschleudert worden, lagen herum wie zerbrochene Puppen mit in die Seite gestemmten Gliedern in Positionen, die kein Knochen aushalten konnte. Ann stand auf und lief zu einer davon, angelockt durch einen vertrauten grauhaarigen Kopf, der seines Helms entblößt war. Das war Kasei, einziger Sohn von John Boone und Hiroko Ai. Eine Seite seines Kinnbackens war blutig, die Augen offen und blicklos. Er hatte sie zu ernst genommen. Und seine Gegner nicht ernst genug. Sein rötlicher Eckzahn war durch eine Wunde freigelegt. Ann sah es, stockte und wandte sich ab. Der Verlust. Alle drei waren jetzt tot.
Sie hockte sich hin und nestelte Kaseis Armbandgerät los. Wahrscheinlich würde sie jetzt eine direkte Frequenz zum Zugriff auf Kakaze haben. Als sie wieder im Schutz eines Obsidiangebäudes war, das von großen weißen Trefferspuren verunziert war, tastete sie den allgemeinen Rufcode ein und sagte: »Hier spricht Ann Clayborn. Sie ruft alle Roten. Alle Roten. Hört, hier spricht Ann Clayborne. Der Angriff auf Sheffield ist mißlungen. Kasei ist tot und viele andere. Weitere Angriffe hier werden nicht gelingen. Sie würden bewirken, daß die ganze Sicherheitsmacht der UNTA wieder auf den Planeten zurückkehrt.« Sie wollte sagen, wie dumm der Plan von Anfang an gewesen war, hielt sich aber zurück. »Diejenigen von euch, die dazu in der Lage sind, verlaßt den Berg! Jeder in Sheffield soll nach Westen gehen, die Stadt verlassen und vom Berg verschwinden. Hier spricht Ann Clayborne.«
Es gingen etliche Bestätigungen ein, die sie sich anhörte, während sie nach Westen ging, zurück durch Arsaview zu ihrem Rover. Sie machte keinen Versuch, sich zu verstecken. Wenn sie getötet wurde, wäre sie eben tot. Aber sie glaubte nicht, daß es jetzt geschehen würde. Sie ging unter den Flügeln eines finsteren Schutzengels, der sie vor dem Tod bewahrte, was immer auch geschehen würde. Er zwang sie, Zeugin des Todes aller derer zu sein, die sie kannte, und des ganzen Planeten, den sie liebte. Ja, das waren Dao und seine Leute, alle sofort tot und in Lachen ihres eigenen Blutes liegend. Sie war dem knapp entronnen.
Und dort unten, auf einem breiten Boulevard mit einer Reihe von Linden in der Mitte, war ein weiterer Leichenhaufen. Keine Roten, sie trugen grüne Kopfbinden, und einer von ihnen sah von hinten aus wie Peter. Sie ging mit weichen Knien hinüber, wie vom Zwang eines Alptraums getrieben. Sie ging um den Leichnam herum. Aber es war nicht Peter. Irgendein hochgewachsener junger Eingeborener mit Schultern wie Peter. Armer Kerl! Ein Mann, der tausend Jahre hätte leben können.
Sie ging unbehelligt weiter. Sie erreichte ohne Zwischenfall ihren kleinen Rover am Westende von Sheffield, stieg ein und fuhr zum Hauptbahnhof im Westen der Stadt.
Dort führte eine Piste den Südhang von Pavonis hinunter in den Sattel zwischen Pavonis und Arsia. Als sie das sah, faßte sie einen sehr einfachen und elementaren Plan, der gerade deshalb durchführbar war. Sie schaltete die Frequenz der Kakaze ein und gab Empfehlungen so, als es wären es Befehle. Weglaufen und Verschwinden! Geht hinab zum Südsattel, dann um Arsia herum auf dem westlichen Hang oberhalb der Schneegrenze, danach schlüpft in das obere Ende von Aganippe Fossa, einem langen geraden Canyon, in dem es ein verborgenes Refugium der Roten gab, eine Klippe in der nördlichen Wand. Dort konnten sie sich verstecken und eine neue lange Untergrundkampagne starten gegen die neuen Herren des Planeten. UNOMA, UNTA, Metanat, Dorsa Brevia. Sie waren alle Grün.
Sie versuchte Cojote anzurufen und war etwas überrascht, als er antwortete. Auch er befand sich irgendwo in Sheffield, das konnte sie erkennen. Ohne Zweifel glücklich, am Leben zu sein, mit einer bitteren, wilden Miene in seinem rissigen Gesicht.
Ann erzählte ihm ihren Plan. Er nickte.
»Im Laufe der Zeit werden sie sich weiter entfernen müssen«, erwiderte er.
Ann konnte nicht umhin zu sagen: »Es war dumm, das Kabel anzugreifen.«
»Ich weiß«, sagte Cojote resigniert.
»Hast du nicht versucht, es ihnen auszureden?«
»Das habe ich.« Seine Miene wurde noch finsterer. »Kasei ist tot?«
»Ja.«
Sein Gesicht verzerrte sich vor Kummer. »O Gott! Diese Schufte!«
Ann schwieg. Sie hatte Kasei nicht gut gekannt und auch nicht besonders gemocht. Cojote hingegen hatte ihn von Geburt an gekannt, damals in Hirokos verborgener Kolonie, und hatte ihn seit jungen Tagen bei seinen heimlichen Unternehmen auf dem ganzen Mars mitgenommen. Jetzt rannen Tränen die tiefen Runzeln auf Cojotes Wangen herab; Ann biß die Zähne zusammen.
»Kannst du sie nach Aganippe hinunterbringen?« fragte sie. »Ich werde bleiben und mit den Leuten in Ost-Pavonis sprechen.«
Cojote nickte. »Ich werde sie hinunterbringen, so schnell ich kann. Treffpunkt Westbahnhof.«
»Ich werde es ihnen sagen.«
»Die Grünen werden wütend auf dich sein.«
»Scheiß auf die Grünen!«
Ein Teil der Kakaze schlich sich im Licht eines verrauchten trüben Sonnenuntergangs in die westliche Endstation von Sheffield. Kleine Gruppen in schmutzigen Anzügen, die Gesichter weiß, erschrocken und ärgerlich, desorientiert im Schock. Abgenutzt. Am Ende waren es drei- oder vierhundert, die die schlechten Nachrichten des Tages austauschten. Als Cojote sich zurückzog, stand Ann auf und erhob ihre Stimme laut genug, daß alle sie hören konnten. Es war ihr bewußt, daß sie in ihrem Leben noch nie in der Führungsposition der Roten gewesen war, oder was das jetzt bedeutete. Diese Leute hatten sie ernstgenommen; und hier waren sie jetzt, geschlagen und froh, noch am Leben zu sein, mit toten Freunden allenthalben in der Stadt östlich von ihnen.
Sie sagte hilflos: »Der direkte Angriff war eine schlechte Strategie. Sie war in Burroughs erfolgreich. Aber das war eine andere Situation. Hier hat sie versagt. Menschen, die tausend Jahre hätten leben können, sind tot. Das Kabel war das nicht wert. Wir gehen ins Versteck und warten auf unsere nächste Chance, eine reale Chance.«
Es gab groben Widerspruch und ärgerliche Rufe: »Nein! Niemals! Holt das Kabel herunter!«
Ann wartete ab. Dann hob sie die Hand, und langsam trat wieder Ruhe ein.
»Es könnte sehr leicht einen Rohrkrepierer geben, wenn wir jetzt gegen die Grünen kämpfen. Das würde den Metanats einen Vorwand geben, wieder einzurücken. Das wäre weitaus schlimmer, als mit einer eingeborenen Regierung auszukommen. Mit den Marsianern können wir zumindest sprechen. Der von der Umwelt handelnde Teil der Übereinkunft von Dorsa Brevia gibt uns einen gewissen Hebelarm. Wir brauchen bloß so gut weiterzuarbeiten, wie wir können. Irgendwo anders beginnen. Versteht ihr?«
Am Morgen wäre das nicht gelungen. Jetzt wollten sie noch nicht. Ann wartete die protestierenden Stimmen ab und starrte ihre Gegner an, bis sie verstummten. Der scharfe eindringende Blick von Ann Clayborne... Eine Menge von ihnen war ihretwegen mit in den Kampf gezogen, in jenen Tagen, da der Feind der Feind war und der Untergrund eine wirklich funktionierende Allianz, locker und geteilt, aber mit allen Elementen mehr oder weniger auf derselben Seite...
Sie senkten die Köpfe und erkannten widerstrebend an, daß, wenn Clayborne gegen sie war, ihre moralische Führerschaft dahin wäre. Und ohne diese, ohne Kasei, ohne Dao, während die Eingeborenen zumeist Grüne waren und fest hinter Nirgal und Jackie als Führern standen, während Peter der Verräter war...