Выбрать главу

So gab es nur noch die Ersten Achtzehn. Obwohl Sax eine provisorische Vermutung wagte, daß es noch sieben mehr sein könnten, wenn Hirokos Gruppe noch irgendwo existierte. Maya hielt das für eine Phantasievorstellung, für ausgesprochenes Wunschdenken; aber andererseits neigte Sax nicht zu so etwas. Vielleicht war also doch etwas daran. Jedenfalls waren es mit Sicherheit noch achtzehn, und die jüngste von ihnen, Mary, (sofern nicht Hiroko noch am Leben war) zählte jetzt 212 Jahre. Ann, die älteste, war 226. Maya selbst war 221, eine deutliche Absurdität; aber so stellte es sich im Jahr 2206 nach den terranischen Nachrichten dar...

»Es gibt aber Menschen in ihren zweihundertfünfzigern«, erklärte Michel, »und die Behandlungen könnten sehr wohl noch recht lange wirken. Es könnte auch nur ein ungünstiger Zufall sein.«

»Vielleicht.«

Jeder Todesfall schien ein Stück von ihm abzuschneiden. Er wurde immer finsterer, was Maya irritierte. Ohne Zweifel dachte er immer noch, er hätte in der Provence bleiben sollen, die die Erfüllung seiner Wünsche darstellte. Diese imaginäre Heimat, welche es immer noch gab, entgegen der offenkundigen Tatsache, daß der Mars seine Heimat war und es vom Augenblick ihrer Landung an gewesen war. Oder von dem Moment an, da er Hiroko traf oder da er ihn als Junge das erste Mal am Himmel gesehen hatte! Niemand konnte sagen, wann das geschehen war. Aber der Mars war seine Heimat, und das war allen außer ihm selbst klar. Und dennoch sehnte er sich nach der Provence. Maya war beides für ihn: sein Exil und sein Land im Exil. Ihre Brüste waren die Berge, ihr Leib das Tal, ihr Geschlecht der Strand und das Meer der Provence. Natürlich war es ein unmögliches Projekt, daß die Heimat auch der sexuelle Partner eines Menschen sein konnte; aber das war sowieso alles Nostalgie, und da Michel unmögliche Projekte für gut hielt, kamen sie im allgemeinen auch immer zustande. Ein Teil ihrer Beziehung. Wenn auch manchmal eine schreckliche Last für sie. Und das nie mehr als dann, wenn der Tod eines der Ersten Hundert ihn zu ihr trieb und damit zu den Gedanken an die Heimat.

Sax war durch eine Leichenfeier oder einen Gedenkgottesdienst immer verärgert. Er fühlte offenbar ganz deutlich, daß der Tod eine grobe Zumutung war, ein flagrantes Stück des großen unerklärlichen Flatterns einer roten Flagge vor seinem Gesicht. Er konnte nichts dagegen tun. Es war ein wissenschaftliches Problem, das noch seiner Lösung harrte. Aber selbst er war durch die mannigfachen Manifestationen des raschen Verfalls überrascht, die sich in ständiger Wandlung befanden, mit Ausnahme der Geschwindigkeit ihrer Wirkung und des Fehlens einer klaren Ursache. Ein Wellenzusammenbruch wie ihr Jamals vu, eine Art von jamais vlvre. Die Theorien waren endlos und unbrauchbar. Es war ein vitales Anliegen für die Alten und auch für die Jüngeren, die damit rechneten, genauso alt zu werden, mit anderen Worten: für jeden. Und darum gab es intensive Studien. Aber bisher wußte noch niemand sicher, was den raschen Verfall bewirkte, und ob es sich überhaupt um eine einzige isolierbare Ursache handelte. Und die Sterbefälle nahmen kein Ende.

Für Yelis Totenfeier hatten sie einen Teil seiner Asche wieder in einen schnell aufsteigenden Ballon gefüllt und starteten ihn von dem gleichen Punkt des Wellenbrechers wie bei Spencer. Dabei standen sie draußen, wo sie zurückblicken und über ganz Odessa schauen konnten. Danach zogen sie sich in die Wohnung von Maya und Michel zurück. Praxis hielt sie jetzt beisammen. Sie sahen Michels Skizzenbücher an und sprachen über Olympus Mons und Underhill. Die Vergangenheit. Maya ignorierte all das und servierte ihnen Tee und Gebäck, bis nur noch Michel, Sax und Nadia in dem Apartment waren. Der Leichenschmaus war vorbei, sie konnte sich entspannen. Sie blieb am Küchentisch stehen, legte Michel eine Hand auf die Schulter und blickte darüber weg auf ein grobgekörntes Schwarzweißfoto, das Flecken hatte, die von Spaghettisoße und Kaffee herrühren mochten. Das verblaßte Bild eines jungen Mannes, der mit einem zuversichtlichen wissenden Lächeln direkt in die Kamera grinste.

»Was für ein interessantes Gesicht!« sagte sie.

Michel versteifte sich. Nadia machte ein betroffenes Gesicht. Maya merkte, daß sie etwas Falsches gesagt hatte. Selbst Sax sah etwas verlegen und fast bestürzt drein. Maya starrte unentwegt auf den jungen Mann auf dem Foto. Ihr fiel nichts dazu ein.

Sie verließ die Wohnung und ging die steilen Straßen von Odessa hoch, vorbei an den getünchten Häusern und den türkisfarbenen Jalousien und Fensterläden, den Katzen und den Terrakottablumenkästen, bis sie ganz oben angelangt war und viele Kilometer weit über die indigofarbene Fläche der Hellas-See blicken konnte. Beim Gehen weinte sie, ohne zu wissen weshalb. Eine seltsame Trostlosigkeit. Und dennoch war auch das schon einmal geschehen.

Etwas später befand sie sich im westlichen Teil der oberen Stadt. Dort war der Park des Paradeplatzes, wo sie The Blood Knot aufgeführt hatten. Oder war es The Winter’s Tale gewesen? Ja, The Winter’s Tale. Aber dort würde es für sie keine Rückkehr ins Leben geben.

Na schön. Hier war sie nun. Sie ging langsam die langen Treppenalleen hinunter, immer weiter nach unten in Richtung ihres Hauses, und dachte über Bühnenstücke nach. Ihre Stimmung wurde im Hinuntergehen etwas leichter. Am Tor stand ein Ambulanzwagen. Sie fühlte sich kalt, als ob man sie mit Eiswasser übergössen hätte. Sie wandte sich ab und ging an dem Haus vorbei und weiter nach unten zur Corniche.

Sie ging in der Corniche auf und ab, bis sie zum Gehen zu müde war. Dann setzte sie sich auf eine Bank. Ihr gegenüber spielte in einem Straßencafe ein Mann sein wimmerndes Bandoneon, ein kahler Alter mit einem weißen Schnurrbart, Tränensäcken, runden Backen und roter Nase. Seine traurige Musik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die Sonne ging gerade unter, und die See war fast still. Die riesige Fläche schimmerte in jenem zähen glasigen Glanz, den flüssige Oberflächen manchmal entfalteten. Alles erschien so orange wie die über den Bergen im Westen verschwindende Sonne. Sie lehnte sich entspannt zurück und fühlte die Meeresbrise auf der Haut. Über ihr schwebten Möwen. Plötzlich erschien die Farbe des Meeres vertraut, und sie erinnerte sich, wie sie von der Ares auf den gefleckten orangefarbenen Ball hinuntergeschaut hatte, welcher der Mars gewesen war, der unberührte Planet. Der unter ihnen nach ihrer Ankunft im Orbit dahingerollt war als ein Symbol für die ewige Möglichkeit auf Glück. Sie war seither nie glücklicher gewesen als damals.