Ich weiß es nicht.
Sie saßen da und blickten beide auf den Teppich. Durch das Fenster war zu sehen, wie in der Kabelkammer ein Aufzugswaggon über den Boden schwebte, in aufrechter Stellung, als bewegte er sich über eine Piste auf das Kabel zu. Er koppelte an, und eine Gangivay klappte heraus und umschloß seine andere Seite.
Geh nicht! wollte er sagen. Geh nicht! Verlaß diese Welt nicht für immer! Verlaß mich nicht! Erinnerst du dich an die Zeit, als die Sufis uns getraut haben? Erinnerst du dich an die Zeit, als wir uns in der Wärme eines Vulkans geliebt haben? Erinnerst du dich an Zygote?
Er sagte nichts. Sie erinnerte sich.
Ich weiß es nicht.
Er langte hinunter und rieb den Flor des Teppichs so, daß er die letzten beiden Worte auswischte. Mit dem Zeigefinger schrieb er: sind wir.
Sie lächelte wehmütig. Was waren Worte gegen all diese Jahre?
Die Lautsprecher verkündeten, daß der Aufzug zur Abfahrt bereit sei. Die Leute standen auf und redeten mit erregten Stimmen. Nirgal stand Jackie gegenüber. Sie schaute ihm in die Augen. Er drückte sie fest an sich. Das war ihr Körper in seinen Armen, so real wie Fels. Ihr Haar in seinen Nasenlöchern. Er holte Luft und hielt den Atem an. Ließ sie los. Sie ging ohne ein Wort. Am Eingang zur Gangway blickte sie einmal zurück. Ihr Gesicht. Und dann war sie fort.
Später erhielt er aus dem Weltraum eine gedruckte Radiomitteilung: Wo immer du auch hingehst, da sind wir. Das stimmte nicht. Aber erfühlte sich dadurch besser. Soviel konnten Worte ausrichten. Na schön, sagte er sich, als er seine Tage mit Wanderungen auf dem Planeten verbrachte, jetzt bin ich unterwegs zum Aldebaran.
Die nördliche Polinsei hatte vielleicht mehr Umformung erfahren als jede andere Landschaft auf dem Mars. Das hatte Sax läuten gehört, und nun spazierte er auf einer Klippe am Rande des Chasma-Borealis- Flusses und sah selbst, was das bedeutete. Die Polkappe war etwa zur Hälfte geschmolzen, und die massiven Eiswände des Chasmas waren fast verschwunden, was ein Auftauen bewirkt hatte, wie es auf dem Mars seit dem frühen Hesperian keines mehr gegeben hatte. Und dieses ganze Wasser war in jedem Frühling und Sommer über die geschichteten Sand- und Lößgebiete gerauscht und hatte sie mit großer Gewalt durchschnitten. Die Senken im Gelände waren zu tiefen Canyons mit Sandwänden ausgewaschen worden, die sich flußabwärts in sehr instabilen Wasserläufen zum Nordmeer hinzogen, im Frühling Schmelzwasser kanalisierten und sich rasch verlagerten, wenn Abhänge und Erdrutsche kurzlebige Seen schufen, ehe die Hindernisse durchschnitten und ihrerseits weggeschwemmt wurden, wobei nur noch Strandterrassen und Rutschlöcher übrigblieben.
Sax blieb stehen und schaute in eines dieser Rutschlöcher hinunter. Er berechnete, wieviel Wasser sich in dem See angesammelt haben mußte, ehe der Damm gebrochen war. Man durfte nicht zu nahe an der Kante des Ausgucks zu stehen kommen, weil die neuen Canyonränder keineswegs stabil waren. Es waren einige Pflanzen zu sehen. Nur hie und da gab es einen Streifen blasser Flechtenfarbe, der etwas Abwechslung neben den mineralischen Tönen bot. Der River Borealis war ein breites Sumpfgebiet voller bewegter Gletschermilch mehr als zweihundert Meter unter ihm. Zuflüsse schnitten weniger tief in abschüssige Täler ein und entluden ihre Fracht in trüben Wasserfällen wie Ergüsse dünner Farbe.
Oberhalb der Canyons war nun, was einst der Boden von Chasma Borealis gewesen war: ein Plateau, von Nebenflüssen durchschnitten in einem Muster wie Adern in einem Blatt. Das war ursprünglich geschichtetes Terrain gewesen und sah jetzt aus, als wären künstlich Höhenlinien in die Landschaft ziseliert worden; und die Schnitte sahen aus, als wären die Kurvenlinien viele Meter tief eingeritzt worden, als hätte die Karte das Gelände bis in große Tiefe markiert.
Es war fast Mittsommer, und die Sonne zog nahezu Tag und Nacht über den Himmel. Wolken lösten sich im Norden vom Eis. Wenn die Sonne am tiefsten stand, entsprechend der Mitte das Nachmittags, trieben diese Wolken in dicken Nebeln südwärts zum Meer, die bronze, purpur- oder fliederfarben oder in anderen wechselnden zarten Farbtönen schimmerten. Vereinzelte Fjellfeldblumen verzierten das geschichtete Plateau und erinnerten Sax an den Arena-Gletscher, jene Landschaft, die lange vor seinem Unfall seine Aufmerksamkeit erregt hatte. An diese erste Begegnung konnte Sax sich nur mit Mühe erinnern; sie hatte sich aber offenbar auf die Weise eingeprägt, in der Gänseküken die erste Kreatur, die sie sehen, als ihre Mutter betrachten. Es gab große Wälder in den gemäßigten Zonen, wo Bestände an Riesensequoien das Unterholz aus Kiefern beschatteten. Es gab eindrucksvolle Meeresklippen, in denen große Schwärme schreiender Vögel hausten. Es gab Terrarien von Kraterdschungeln aller Art, und in den Wintern die endlosen Flächen von Sastrugi-Schnee. Es gab Schluchten wie vertikale Welten, große Wüsten mit rotem, sich verlagerndem Sand, Vulkanhänge aus schwarzem Geröll. Es gab jede Art von Biom, egal wie groß und klein. Aber Sax war diese karge Biolandschaft am liebsten.
Er ging weiter über die Felsen. Sein kleiner Wagen folgte ihm, so gut er konnte, und überquerte die Zuflüsse des Borealis-Stroms oberhalb bei den ersten Wagenfurten. Das sommerliche Blühen, obwohl schwer zu erkennen, wenn man mehr als zehn Meter entfernt war, war dennoch intensiv farbig und auf seine Weise ebenso eindrucksvoll wie der Regenwald. Der von diesen Pflanzen erzeugte Boden war nur sehr dünn und würde bestenfalls langsam dicker werden. Und es war schwierig, ihn zu vermehren, denn jeder in die Canyons fallende Boden gelangte schließlich in das Nordmeer. Auf dem geschichteten Terrain waren die Winter so rauh, daß Boden wenig nützte, da er nur ein Teil des Permafrostes wurde. Also ließ man die Fjellfelder in ihrem eigenen langsamen Tempo zu Tundren werden und sparte den Boden für erfolgversprechendere Regionen im Süden auf. Sax fand das richtig. Es beließ jedem für viele kommende Jahrhunderte das Erlebnis des ersten Areobioms, in all seiner Kargheit und Unirdischkeit.
Sax stapfte über das Geröll und beachtete jedes pflanzliche Leben unter seinen Füßen. Dabei wandte er sich seinem Wagen zu, der inzwischen zu seiner Rechten außer Sicht geraten war. Die Sonne hatte ziemlich genau die gleiche Höhe, die sie den ganzen Tag gehabt hatte. Von der tiefen Senke, wo der neue schmale Fluß von Chasma Borealis dem Lauf des breiten alten folgte, entfernt, war es sehr schwer, die Orientierung zu behalten. Norden könnte überall im Bereich von 180 Grad liegen — im Grunde ›hinter ihm‹. Und es würde nicht helfen, aufs Geratewohl auf das Nordmeer zu zumarschieren, weil Polarbären an dieser Küste sehr gut gediehen und Seehunde und umherstreifende Krähen töteten.
Darum machte Sax einen Moment Pause und befragte die Karte an seinem Handgelenk, um seinen genauen Standort zu bestimmen. Er hatte in diesen Tagen ein sehr gutes Kartenprogramm in seinem Handy. Er stellte fest, daß er sich auf 31,63844° Länge und 84,89926° nördlicher Breite befand, plus oder minus ein paar Meter. Sein Wagen stand bei 31,64114 und 84,86857. Wenn er wie auf einer ausgezeichneten natürlichen Treppe auf die Spitze dieses kleinen brotlaibartigen Buckels im Westnordwesten kletterte, müßte er ihn sehen können. Jawohl, da rollte er in lässigem Marschtempo dahin. Und da, in den Ritzen dieses Brotlaibs (um diese anthropomorphe Analogie zu benutzen) gab es etwas kleinen rötlichen Steinbrech, der hartnäckig im Schütze des geborstenen Steines hockte.
Etwas an diesem Bild war so befriedigend: Das geschichtete Terrain, der Steinbrech im Licht, der kleine Wagen, der sich auf das Rendezvous zum Dinner mit ihm zubewegte, die angenehme Müdigkeit in seinen Füßen und dann noch etwas Undefinierbares, wie er zugeben mußte. Es war nicht zu erklären, wieso die einzelnen Elemente des Erlebnisses nicht ausreichten, um das Vergnügen daran zu begründen. Eine Art von Euphorie. Er nahm an, es sei Liebe. Der Geist des Ortes, die Liebe zum Ort, die Areophanie — nicht nur, wie Hiroko sie beschrieben hatte, aber vielleicht, wie sie sie auch erfahren hatte. Ah, Hiroko, konnte sie dies wirklich die ganze Zeit als so schön empfunden haben? Eine gesegnete Kreatur. Kein Wunder, daß sie eine solche Aura ausgestrahlt, eine solche Gefolgschaft gefunden hatte. Schön, diesem Glück nahe zu sein, zu lernen, es selbst zu empfinden... Liebe zum Leben des Planeten. Sicher war die biologische Komponente der Szene ein kritischer Bestandteil der Zuneigung. Selbst Ann hätte das, stünde sie jetzt neben ihm, sicher zugeben müssen. Eine interessante Hypothese, die man prüfen sollte. Ann, sieh dir diesen purpurnen Steinbrech an! Sieh, wie er irgendwie den Blick auf sich zieht! Das Interesse wird im Zentrum der krummlinigen Landschaft fixiert. Und so auch die spontan entstandene Liebe.