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Nun wohl, dieser Umstand war nur eine der vielen Bedingungen, denen sie sich in ihrem unnatürlich verlängertem hohen Alter anpassen mußten. Das war sehr lästig und bisweilen sogar ärgerlich. Ohne Zweifel mußte das Thema untersucht werden, obwohl das Gedächtnis einen notorischen Morast für die neurologischen Wissenschaften darstellte. Es hatte gewisse Ähnlichkeit mit dem Problem vom undichten Dach. Unmittelbar nach dem Verlust eines solchen Gedankenganges, wenn man sich seiner fehlenden Gestalt und der emotionalen Erregung noch bewußt war, trieb es ihn fast zum Wahnsinn. Wenn aber der Inhalt des Gedankens eine halbe Stunde später wirklich vergessen war, schien es nicht mehr wichtiger zu sein als das Entschwinden von Träumen in den Minuten nach dem Erwachen. Er hatte andere Dinge, um die er sich kümmern mußte.

Da wäre die Serie von Todesfällen unter seinen Freunden. Diesmal war es Yeli Zudov, ein Mitglied der Ersten Hundert, das er nie gut gekannt hatte. Dennoch fuhr auch er nach Odessa hinunter, und nach dem Gedenkgottesdienst, einer traurigen Angelegenheit, während der Sax oft durch Gedanken an Vlad, Spencer oder Phyllis und dann Ann abgelenkt wurde, kehrten sie zu dem Praxisgebäude zurück und saßen in Michels und Mayas Wohnung. Es war nicht dasselbe Apartment, in dem sie vor der Zweiten Revolution gelebt hatten; aber, soweit Sax sich erinnern konnte, hatte Michel sich Mühe gegeben, es genau so einzurichten, wie es damals ausgesehen hatte — wohl zur Therapie Mayas, als sie immer mehr mentale Schwierigkeiten hatte —, Sax wußte nicht, welche es zuletzt gewesen waren. Er war nie imstande gewesen, sich um die melodramatischen Aspekte Mayas zu kümmern und hatte Michels Reden über sie keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, wenn sie beide in letzter Zeit zusammenkamen. Es war immer anders und immer dasselbe.

Aber jetzt nahm er eine Tasse Tee von Maya entgegen und sah ihr nach, als sie wieder in die Küche ging, vorbei an dem Tisch, wo Michels Notizbücher ausgebreitet waren. Obenauf lag ein Foto von Frank, das Maya vor langer Zeit hochgeschätzt hatte. Sie hatte es in dem Apartment im Küchenabteil beim Ausguß an der Wand befestigt. Daran erinnerte Sax sich sehr deutlich. Es war eine Art heraldischer Zug in jenen angespannten Jahren, als alle kämpften, während der junge Frank sie auslachte.

Maya blieb stehen und sah das Foto genau an. Ohne Zweifel erinnerte sie sich an ihre früheren Toten. Jene, die vor so langer Zeit dahingegangen waren.

Aber sie sagte: »Was für ein interessantes Gesicht!«

Sax empfand einen Kälteschauer in der Magengrube. So deutlich waren die physiologischen Anzeichen des Kummers. Der Verlust des Inhalts eines spekulativen Gedankengangs, ein metaphysisches Abenteuer — das war eine Sache. Aber dies, ihre eigene Vergangenheit und die gemeinsame Vergangenheit, war unerträglich. Das würde er nicht aushalten.

Maya sah, daß die anderen schockiert waren, wußte aber nicht, warum. Nadia hatte Tränen in den Augen, was ein ungewöhnlicher Anblick war. Michel sah betroffen aus. Maya spürte, daß etwas ernstlich nicht stimmte, und floh aus dem Apartment. Niemand hielt sie auf.

Die anderen griffen das Thema auf. Nadia ging zu Michel. Der brummte mit gequälter Miene: »Ja, so ist es nun mal, diese Vorfälle häufen sich. Ich fühle es selbst. Aber für Maya...« Er schüttelte den Kopf und sah höchst entmutigt aus. Selbst Michel konnte nichts Gutes daraus machen. Michel, der bei all ihren früheren Meinungsumschwüngen seine Alchemie des Optimismus entwickelt und zu einem Teil seiner großen Story gemacht hatte, dem Mythos vom Mars, den er irgendwie aus dem täglichen Morast herausgequetscht hatte. Aber dies war der Tod der Story. Zu schwer zum Mythologisieren. Nein — das Leben, nachdem das Gedächtnis gestorben war, war eine bloße Farce, schrecklich und ohne Sinn. Man mußte unbedingt etwas unternehmen.

Sax dachte noch darüber nach. Er saß in einer Ecke, in sein Armband vertieft, und las eine Sammlung von Kurzfassungen neuerer experimenteller Arbeiten über das Gedächtnis, als er aus der Küche einen Fall und einen Schrei von Nadia hörte. Sax eilte hinaus und fand Nadia und Art über Michel gebeugt, der mit kreidebleichem Gesicht auf dem Fußboden lag. Sax rief den Pförtner; und schneller, als er es für möglich gehalten hätte, war ein Erste-Hilfe-Team mit seinen Geräten hereingestürmt und hatte Art beiseite geschoben. Große junge Eingeborene, die Michel brüsk an ihr kompaktes Apparatenetz anschlössen, wobei die Alten lediglich Zuschauer beim Kampf ihres Freundes blieben.

Sax setzte sich zu den Ärzten und legte eine Hand auf Michels Hals und Schulter. Michels Atem hatte aufgehört, ebenso der Puls. Weißes Gesicht. Die Versuche zur Wiederbelebung waren heftig. Elektroschocks wurden mit verschiedenen Stärken ausprobiert. Der anschließende Übergang zur Herz-Lungen-Maschine wurde mit minimalem Umstand vollzogen. Die jungen Ärzte arbeiteten fast stillschweigend, sprachen nur miteinander, wenn es unbedingt nötig war, und schienen die an der Wand sitzenden alten Leute nicht zu bemerken. Sie taten alles, was sie konnten, aber Michel blieb hartnäckig und mysteriöserweise tot.

Natürlich hatte er sich über Mayas Gedächtnisverlust aufgeregt. Aber das schien keine passende Erklärung zu sein. Er war sich Mayas Problem durchaus schon bewußt gewesen und hatte sich Sorgen gemacht. Darum sollte eine einzelne Bekundung ihres Problems keine Rolle gespielt haben. Ein Zufall. Ein schlimmer. Und natürlich kam ganz spät an diesem Abend, nachdem die Ärzte endgültig aufgegeben, Michel nach unten getragen hatten und jetzt ihr Gerät aufräumten, Maya zurück; und sie mußten ihr berichten, was geschehen war.

Sie war natürlich heftig erregt. Ihr Schock und ihre Angst waren für einen der jungen Ärzte zu viel, der sie zu trösten versuchte (das wird dir nicht gelingen, wollte Sax sagen; ich habe es schon selbst probiert). Er bekam prompt wegen seiner Bemühungen eine Ohrfeige, was ihn wütend machte. Er ging hinaus in den Korridor und setzte sich bedrückt hin.

Sax kam hinterher und setzte sich neben ihn. Der junge Mann weinte.

»Ich kann das nicht mehr weiter machen«, sagte er nach einer Weile. Er schüttelte den Kopf, wohl, um sich zu entschuldigen. »Es hat keinen Sinn. Wir kommen, tun alles, was wir können, aber ohne Erfolg. Nichts hält den raschen Verfall auf.«

»Worin besteht er denn?« fragte Sax.

Der junge Mann hob seine kräftigen Schultern und schniefte: »Das ist das Problem. Niemand weiß es.«

»Es muß doch sicher Theorien geben? Autopsien?«

»Herzarhythmien«, sagte einer der Ärzte knapp, der mit einem Gerät vorbeikam.

»Das ist das Symptom«, sagte der sitzende Mann und schniefte wieder. »Aber woher kommt die Arhythmie? Und warum läßt sie sich durch unsere Apparate nicht beheben?«

Niemand antwortete.

Noch ein Geheimnis, das gelöst werden mußte. Sax sah durch die offene Tür, daß Maya auf der Couch saß und weinte. Nadia saß neben ihr wie eine Statue. Plötzlich wurde es Sax klar, daß Michel, auch wenn er eine Erklärung fände, tot war und das nichts mehr ändern konnte.

Art traf mit den Ärzten Absprachen. Sax tastete auf seinem Handy herum und überflog eine Liste der Titel der Aufsätze über den raschen Verfall. Sie umfaßte 8361 Titel. Es gab Literaturzusammenfassungen und von Computern zusammengetragene Tabellen, aber nichts, das nach einer definitiven paradigmatischen Feststellung aussah. Immer noch im Stadium der Beobachtung und Ausgangshypothesen herumtappend ... In vielerlei Hinsicht ähnelte es dem Buch über Gedächtnis, das Sax schon gelesen hatte. Tod und Verstand. Wie lange hatten sie diese Probleme studiert, wie lange hatten diese Probleme widerstanden! Michel selbst hatte sich dazu geäußert und auf eine tiefergehende Mitteilung verwiesen, die die unerklärlichen Elemente deuten sollte. Michel, der Sax von der Aphasie geheilt hatte, der ihn über Teile seines Ichs unterrichtet hatte, deren Existenz er nicht einmal erahnt hatte. Michel war dahingegangen. Er würde nicht zurückkehren. Sie hatten die letzte Version seines Körpers aus dem Apartment getragen. Er war nach jedem früheren Standard ungefähr in Saxens Alter gewesen. Warum dann dieser Schmerz in Saxens Brust, dieser Schwall heißer Tränen? Das ergab keinen Sinn. Aber Michel hätte es verstanden. Besser dies als der Tod des Geistes, würde er gesagt haben. Aber Sax war sich nicht so sicher. Seine Gedächtnisprobleme erschienen jetzt weniger wichtig, genau wie die von Maya. Sie erinnerte sich immerhin genug, um zu realisieren, daß sie Schaden genommen hatte. Er auch. Er erinnerte sich an das, was wichtig war.