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Eigenartig, sich zu erinnern, daß er unmittelbar vor dem Tod aller drei ihrer Gefährten in ihrer Gesellschaft gewesen war. John, Frank und jetzt Michel. Jedesmal ist es für sie schlimmer geworden. Und dasselbe galt für ihn.

Die Asche von Michel wurde in einem Ballon über das Hellas-Meer getragen und verstreut. Eine kleine Prise hoben sie auf, um sie in die Provence zu bringen.

Die Literatur über Langlebigkeit und Greisentum war so umfangreich und spezialisiert, das es für Sax zunächst schwierig war, seinen gewohnten Zugriff auf das Material zu organisieren. Neuere Arbeiten über den raschen Verfall bildeten den naheliegenden Ausgangspunkt, aber um Aufsätze über das Thema zu verstehen, mußte man auf ihre Vorgänger zurückgreifen und zu einem tieferen Verständnis der Langlebigkeitsbehandlungen als solcher zu gelangen. Dies war ein Gebiet, das Sax nie mehr als oberflächlich verstanden hatte, da er wegen seiner unordentlichen, biologisch nicht erklärbaren, geradezu wunderbaren Natur instinktiv davor zurückscheute. Wirklich ein Thema, das dem Herzen des großen Unerklärbaren sehr nahe war. Er hatte es fröhlich Hiroko und dem äußerst begabten Vladimir Taneev überlassen, der zusammen mit Ursula und Marina die ersten Behandlungen entworfen und deren Durchführung beaufsichtigt und seit damals viele bedeutende Veränderungen vorgenommen hatte.

Aber jetzt war Vlad tot. Und Sax war interessiert. Es war Zeit, in die Viriditas einzutauchen, in den Bereich des Komplexen.

Hier war ordentliches Verhalten, dort war chaotisches Verhalten. Und an der Grenze, sozusagen in ihrer Wechselwirkung, lag eine sehr ausgedehnte und verknäulte Zone, der Bereich des Komplexen. Dies war die Zone, wo Viriditas in Erscheinung trat, der Ort, wo Leben existieren konnte. Das Leben inmitten der Zone der Komplexität zu halten, war im allgemeinsten philosophischen Sinne das, worum sich die Langlebigkeitsbehandlungen bemüht hatten. Zu verhindern, daß verschiedene Einbrüche des Chaos (wie Aryhthmie) oder der Ordnung (wie bösartiges Zellwachstum) den Organismus verhängnisvoll zerstörten.

Aber inzwischen war etwas aufgetreten, das das gerontologisch behandelte Individuum von vernachlässigbarer Vergreisung zu extrem schnellem Altern überführte oder, noch verwirrender, direkt von der Gesundheit zum Tod führte — ganz ohne jedes Greisentum. Irgendein bisher nicht erkanntes Hereinbrechen von Chaos oder Ordnung in die Grenzzone des Komplexen. So erschien es ihm auf jeden Fall am Ende jeder langen Lektüresitzung der allgemeinsten Darstellungen des Phänomens, die er finden konnte. Und es schlug auch gewisse Forschungswege in der mathematischen Beschreibung der komplex-chaotischen Grenze vor, wie auch der Grenze zwischen Ordnung und Komplexität. Aber Sax verlor seine holistische Sicht des Problems in einem seiner Ausfälle, wobei der Gedankengang hinsichtlich der Substanz der Mathematik für immer verlorenging. Und wahrscheinlich (er versuchte, sich danach zu trösten) war es wohl eine allzu philosophische Sicht gewesen, um ihm irgendwie zu nützen. Die Erklärung schien schließlich doch nicht so auf der Hand zu liegen, sonst hätten die massiven konzertierten Bemühungen der medizinischen Wissenschaft es inzwischen herausgebracht. Im Gegenteil — es mußte etwas sehr Subtiles in der Biochemie des Gehirns stecken, einem Gebiet, das wie eine Hydra fünfhundert Jahren wissenschaftlicher Forschung widerstanden hatte, indem jede neue Entdeckung nur auf eine weitere Menge mysteriöser Köpfe hinwies...

Dennoch blieb er hartnäckig. Und nach einigen Wochen angespannter Lektüre verschaffte er sich gewiß eine bessere Orientierung auf dem Gebiet, als er sie je zuvor gehabt hatte. Früher hatte er den Eindruck gehabt, daß die Langlebigkeitsbehandlung auf einer recht einfachen Injektion der eigenen DNS beruhe, wobei die künstlich erzeugten Fasern die in den Zellen bereits vorhandenen verstärkten, so daß die sich im Laufe der Zeit einschleichenden Brüche und Fehler repariert und die Fasern allgemein gekräftigt wurden. Soweit stimmte das ja auch; aber die Langlebigkeitsbehandlung war noch mehr, ebenso wie das Altern mehr als nur ein Fehler der Zellteilung war. Sie war, wie man hätte voraussagen können, viel komplizierter als einfach das Zerbrechen von Chromosomen. Sie war ein ganzer Komplex von Prozessen. Und während man manche davon gut verstand, galt das nicht automatisch für alle. Alterungsprozesse fanden auf jeder Ebene statt: Molekül, Zelle, Organ, Organismus. Manche Alterung beruhte auf hormonalen Effekten, die für den jungen Organismus in seiner reproduktiven Phase positiv sind, aber später negativ für das nicht mehr reproduktive Wesen, wenn es für die Evolution keine Rolle mehr spielte. Manche Zeil-Linien waren praktisch unsterblich. Zellen des Knochenmarks und der Schleim im Gedärm ersetzten sich, solange ihre Umgebung lebendig war, ohne jedes Anzeichen für altersbedingte Veränderungen. Andere Zellen, wie die nicht ersetzten Proteine in der Linse des Auges, unterlagen Veränderungen, die durch Wärme oder Licht hervorgerufen wurden, und zwar so regelmäßig, um als eine Art biologischen Chronometers dienen zu können. Jede Zellreihe alterte mit unterschiedlicher Geschwindigkeit oder überhaupt nicht. Das war nicht bloß ›eine Sache der Zeit‹ im Sinne Newtonscher absoluter Zeit, die entropisch auf einen Organismus einwirkt. Eine solche Zeit gab es nicht. Vielmehr handelte es sich um sehr viele Folgen spezieller physikalischer und chemischer Ereignisse, die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten und sich verändernden Effekten bewegen. Es gab eine phantastisch hohe Zahl von Mechanismen der Zellreparatur, die in jedem großen Organismus stecken, und ein Immunsystem von großer und variabler Kraft. Die Langlebigkeitsbehandlungen ergänzten oft die Prozesse oder ersetzten sie. Zu der Behandlung gehörten jetzt auch Ergänzungen der enzymatischen Photolyase, die Behebung von DNS-Schäden und Zusätze zu dem epiphysären Hormon-Melatonin, sowie Dehydroepiandrosterone, ein Steroidhormon, das von den Nebennierendrüsen produziert wird... Es gab jetzt ungefähr zweihundert solcher Komponenten bei der Langlebigkeitsbehandlung.

So viel, so komplex! Manchmal beendete Sax seine Tageslektüre und ging zu Odessas Strand hinunter, um mit Maya auf der Corniche zu sitzen und ein Burrito zu essen, den er betrachtete und dabei über alles nachdachte, was in seine Verdauung einging, über alles, das sie am Leben erhielt. Er fühlte seinen Atem, den er vorher überhaupt nicht beachtet hatte. Plötzlich kam er sich atemlos vor, verlor den Appetit und verlor den Glauben, daß irgendein so komplexes System länger als einen Moment existieren könnte, ehe es in urtümliches Chaos und die Trivialitäten der Astrophysik zusammenbrach. Wie ein Kartenhaus von hundert Stockwerken bei Wind. Man brauchte es nur irgendwo anzustoßen, und... Es war günstig, daß Maya nicht viel aktive Gesellschaft brauchte, weil er oft viele Minuten lang sprachlos saß, hingerissen in der Betrachtung seiner offenbaren Unfähigkeit.

Aber er war hartnäckig. So verhielt sich ein Wissenschaftler eben, wenn er mit einem Rätsel konfrontiert war. Und es gab andere, die bei der Forschung halfen und ihm voraus an den Grenzen arbeiteten und neben ihm auf verwandten Gebieten, angefangen mit der Virologie des Kleinen, in der die Untersuchungen über winzige Formen wie Prionen und Viroide immer noch kleinere Formen ans Licht förderten, die fast zu untergeordnet waren, um Leben genannt werden zu können: Viride, Viris, vis, vs — die alle für das große Problem von Bedeutung sein könnten... Den ganzen Weg bis hinauf zu großen organismischen Abkömmlingen wie Rhythmen der Gehirnwellen und deren Beziehung zum Herz und anderen Organen; oder die ständig abnehmenden Melatoninsekrete der Zirbeldrüse, eines Hormons, das viele Aspekte des Alterns zu regeln schien. Sax verfolgte das alles im Bemühen, durch seine spätere und hoffentlich größere Perspektive einen neuen Überblick zu gewinnen. Er mußte seiner Intuition hinsichtlich dessen, was wichtig erschien, folgen, und das studieren.