Die neueren Arbeiten über das Gedächtnis waren sehr anregend. Diese spezielle wissenschaftliche Front hatte gewisse Beziehungen zu der Arbeit über die Lerntechniken, die es Sax ermöglicht hatte, sich (teilweise) von seinem Schlag zu erholen. Das war nicht überraschend, da Gedächtnis das Behalten von Erlerntem war. Alle Wissenschaft vom Gehirn schien auf ihr Verständnis vom Bewußtsein zusammenzulaufen. Aber in dieser Folge blieben Behalten und Erinnern widerspenstige entscheidende Themen, die man immer noch nur mangelhaft verstand.
Aber es gab Hinweise, die sich ständig mehrten. Kliniken meldeten, daß viele der Alten Gedächtnisprobleme wechselnder Art hatten. Und hinter den Alten kam eine riesige Generation von Nisei, die die bei ihren Vorfahren auftretenden Probleme sahen und hofften, ihnen zu entgehen. Also war das Gedächtnis ein aktuelles Thema. Hunderte, sogar Tausende von Labors arbeiteten auf die eine oder andere Weise daran; und als Resultat wurden verschiedene Aspekte deutlich. Sax vertiefte sich in die Literatur in seiner gewöhnlichen Art. Er las einige Monate ohne Ende; und glaubte danach sagen zu können, wie das Gedächtnis arbeitete. Aber wie alle an dem Problem arbeitenden Forscher stieß er auf die ungenügende Kenntnis der Grundlagen von Bewußtsein, Materie und Zeit. Und an dieser Stelle konnte Sax, so detailliert das Wissen auch war, nicht verstehen, wie man das Gedächtnis verbessern oder verstärken könnte. Dazu gehörte etwas mehr.
Die ursprüngliche Hebb-Hypothese, die Donald Hebb 1949 aufgestellt hatte, war immer noch gültig, einfach weil sie ein so allgemeines Prinzip verkündete. Danach veränderte das Lernen irgendeinen physischen Zug im Gehirn, und danach codierte der veränderte Zug das Gelernte. Zu Hebbs Zeiten verstand man das physische Merkmal (das Engramm) irgendwie als ein Ereignis auf synaptischer Stufe. Und da es für jedes der zehn Milliarden Neuronen im Gehirn Hunderttausende von Synapsen geben konnte, erhielten die Forscher den Eindruck, daß das Gehirn imstande sei, 1014 Bits an Daten zu erfassen. Das erschien damals mehr als angemessen, das menschliche Bewußtsein zu erklären. Und das lag für Computer auch im Bereich des Möglichen. Es führte zu einer kurzen Woge von Euphorie hinsichtlich der Vorstellung leistungsfähiger künstlicher Intelligenz. Ebenso gab es zu jener Zeit eine Version ›maschineller Fehlerhaftigkeit als Gegenstück zur pathologischen Fehlerhaftigkeit, bei der man dachte, daß das Gehirn so etwas wie die stärkste Maschine dieser Zeit sein könnte.
Aber die Arbeiten des einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Jahrhunderts machten klar, daß es keine spezifischen Plätze für ›Engramme‹ als solche gab. Jede Menge von Experimenten zur Lokalisierung dieser Stellen, einschließlich solcher, bei denen verschiedene Teile von Rattengehirnen entfernt worden waren, nachdem sie eine Aufgabe gelernt hatten, und sich kein Teil des Gehirns als der Wesentliche erwiesen hatte, führten die enttäuschten Experimentatoren zu dem Schluß, daß das Gedächtnis sich ›überall und nirgends‹ befand, entsprechend der Analogie mit einem Hologramm, noch verrückter als all die anderen Maschinenanalogien. Aber sie waren fassungslos und mühten sich weiter ab. Später klärten Experimente den Sachverhalt. Es wurde offenkundig, daß alle Aktivitäten des Bewußtseins sich auf einer viel kleineren Ebene abspielten als der neuronalen. Sax assoziierte das in Gedanken mit dem allgemeinen wissenschaftlichen Interesse an Miniaturisierung im Laufe des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts.
Bei dieser subtileren Bewertung hatte man begonnen, die Cytoskelette von Nervenzellen zu erforschen, die aus internen Gruppierungen von Mikroröhrchen mit Proteinbrücken dazwischen bestanden. Die Struktur dieser Mikrogebilde setzte sich aus Röhren aus dreizehn Säulen von Tubulin-Dimeren, erdnußförmigen kugligen Proteinpaaren von je acht-mal-vier-mal-vier Nanometern, die es, abhängig von ihrer elektrischen Polarisierung, in zwei verschiedenen Konfigurationen gab. Damit stellten die Dimeren einen möglichen Ein-Aus-Kippschalter des vermuteten Engramms dar. Aber sie waren so klein, daß der elektrische Zustand jedes Dimers durch die ihn umgebenden Dimere von den zwischen ihnen wirksamen Van-der-Waals-Kräfte beeinflußt wurde. Darum konnten Botschaften aller Art entlang jeder Mikroröhre und entlang der diese verbindenden Proteinbrücke verbreitet werden. Dazu war in jüngster Zeit noch ein weiterer Schritt in der Miniaturisierung gekommen. Jedes Dimer enthielt etwa 450 Aminosäuren, die durch Veränderung ihrer Sequenzen Information enthalten konnten. Und innerhalb der Dimersäulen gab es winzige Fäden aus Wasser in geordnetem Zustand, den man Vicinalwasser — also Nachbarwasser — nannte. Dieses war imstande, quantumkohärente Schwingungen längs des Röhrchens zu übertragen. Eine große Anzahl von Experimenten an lebenden Affengehirnen mit miniaturisiertem Gerät verschiedener Art hatte ergeben, daß sich bei denkendem Bewußtsein Sequenzen von Aminosäuren verlagerten. Die Röhrendimeren änderten an vielen verschiedenen Stellen im Gehirn ihre Konfiguration in gepulsten Phasen. Mikroröhrchen bewegten sich und wuchsen manchmal. Und in viel größerem Maßstab wuchsen dann dendritische Dornen, die neue Verbindungen schufen. Manchmal änderten sich die Synapsen auf Dauer, manchmal nicht.
Also besagte das beste derzeitige Modell, daß Erinnerungen als stehende Muster quantenkohärenter Oszillationen incodiert würden, hervorgerufen durch Veränderungen in den Mikroröhrchen und deren Bestandteilen, wobei alles nach Mustern innerhalb der Neuronen verlief. Obwohl es jetzt Forscher gab, die spekulierten, daß es signifikante Aktion sogar auf noch feineren ultramikroskopischen Ebenen geben könnte, die aber für immer jenseits ihrer Untersuchungsmöglichkeiten lägen (ein geläufiger Refrain), sahen manche Gelehrte Spuren von Anzeichen, daß die Schwingungen in der Art von Spin-Netz-Mustern strukturiert sein könnten, wie sie Baos Arbeit beschrieb — in verknüpften Knoten und Netzen, die Sax seltsam an den Plan des Gedächtnispalastes erinnerten — Räume und Korridore —, als ob die alten Griechen allein durch innere Schau die eigentliche Geometrie der Raumzeit erahnt hätten.
Auf jeden Fall war es sicher, daß diese ultramikroskopischen Aktivitäten durch die Plastizität des Gehirns nahegelegt wurden. Sie waren ein Teil davon, wie das Gehirn lernte und sich dann erinnerte. Also fand Erinnerung auf einer viel kleineren Ebene statt, als man sie sich früher vorgestellt hatte. Das Gehirn erhielt dadurch eine viel höhere Möglichkeit des Rechnens als zuvor: 1024 Operationen in der Sekunde, oder gar bei manchen Berechnungen 1043. Das führte einen Forscher zu dem Schluß, daß jeder menschliche Verstand in gewissem Sinne komplizierter war als der ganze Rest des Universums (natürlich abzüglich seiner anderen Bewußtseine). Sax erinnerte das verdächtig an die starken anthropischen Phantome, die man allenthalben in der kosmologischen Theorie sah. Aber es war eine interessante Idee, und es lohnte sich, darüber nachzudenken.
Also ging nicht bloß mehr vor sich, sondern es geschah auch auf so feinen Ebenen, daß sicher Quanteneffekte im Spiel waren. Experimente hatten gezeigt, daß sich in jedem Gehirn kollektive Quantenphänomene in großem Maßstab abspielten. Es gab im Gehirn sowohl globale Quantenkohärenz als auch Quantenverbindung zwischen den verschiedenen elektrischen Zuständen der Mikroröhrchen. Und dies besagte, daß all die kontra-intuitiven Phänomene und das reine Paradoxon der Quantenrealität ein integrierender Bestandteil des Bewußtsein waren. Tatsächlich hatte es erst kürzlich eine Gruppe französischer Forscher geschafft, durch Berücksichtigung der Quanteneffekte in den Cytoskeletten eine plausible Theorie darüber vorzubringen, weshalb Anästhetika überhaupt wirken — nach all den Jahrhunderten, in denen man sie fröhlich angewendet hatte.
Also waren wir mit noch einer bizarren Quantenwelt konfrontiert, in der es Fernwirkung gab, in der Entscheidungen keinen Einfluß auf tatsächliche Ereignisse haben konnten und in der gewisse Ereignisse teleologisch ausgelöst zu werden schienen; was besagt, verursacht durch Ereignisse, die zeitlich erst nach ihnen auftreten... Sax war von dieser Entwicklung nicht sehr überrascht. Sie sprach für ein Gefühl, das er sein ganzes Leben lang gehabt hatte, wonach der menschliche Geist höchst geheimnisvoll war, eine Black Box, welche die Wissenschaft kaum erforschen würde können. Und jetzt, da die Wissenschaft sich damit beschäftigte, geriet sie hart an die großen Unerklärbarkeiten der Realität selbst.