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Immerhin konnte man sich an das halten, was die Wissenschaft gelernt hatte, und zugeben, daß sich Realität auf Quantenebene auf eine Weise verhielt, die auf der Ebene der menschlichen Sinne und gewöhnlichen Erfahrungen einfach unerhört war. Man hatte dreihundert Jahre lang Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen und schließlich dieses Wissen in sein Weltbild einzubauen und weiterzumachen. Sax hätte wirklich gesagt, daß er sich mit den gewohnten Quantenparadoxa wohl fühlte. Dinge im Mikrobereich, die bizarr, aber erklärbar waren, quantifizierbar oder unter Benutzung komplexer Zahlen zumindest beschreibbar, mit Riemannscher Geometrie und all dem übrigen Rüstzeug der passenden Zweige der Mathematik. Es hätte gar keine Überraschung sein sollen, wenn man solches Zeug im eigentlichen Arbeiten des Gehirns fand. Es war in der Tat, verglichen mit so etwas wie der menschlichen Geschichte, Psychologie oder Kultur, sogar etwas beruhigend. Schließlich war das alles doch nur Quantenmechanik. Etwas, das durch die Mathematik modelliert werden konnte. Und das wollte schon etwas heißen.

So war auf einer sehr feinen strukturellen Ebene im Gehirn vieles aus der Vergangenheit eines Menschen enthalten, aufgezeichnet in einem einzigartigen komplizierten Netzwerk von Synapsen, Mikroröhrchen, Dimeren, Vicinalwasser und Ketten aus Aminosäuren — alle klein genug und nahe genug beisammen, um gegenseitig Quanteneffekte zu erzielen. Muster von Quantenfluktuation, die sich verstreuten und zusammenbrachen — das war Bewußtsein. Und diese Muster wurden offenbar in spezifischen Teilen des Gehirns gehalten oder erzeugt. Sie waren das Ergebnis einer auf vielen Ebenen zum Ausdruck kommenden physikalischen Struktur. Zum Beispiel war der Hippocampus von kritischer Bedeutung, besonders die gezahnte Gyrusregion und die durchstoßenden Wegenerven, die zu ihm führten. Und der Hippocampus war äußerst sensibel gegen Aktivitäten im limbischen System, das im Gehirn direkt unterhalb von ihm sitzt. Und das limbische System war in mannigfacher Weise der Sitz der Emotionen, was die Alten als Herz bezeichnet hätten. Also hatte die emotionale Belegung eines Ereignisses viel damit zu tun, wie nachhaltig es im Gedächtnis festgehalten wurde. Es ereigneten sich Vorfälle, und das Bewußtsein war deren Zeuge oder erfuhr von ihnen; und unvermeidlicherweise veränderte ein großer Teil dieser Erfahrung das Gehirn und wurde für immer ein Teil von ihm. Besonders die durch Emotion gesteigerten Ereignisse. Diese Darstellung fand Sax überzeugend: Es erinnerte sich am deutlichsten an jene Vorfälle, die mit starken Empfindungen verbunden gewesen waren, und vergaß die, wie gewisse Experimente nahelegten, besonders beharrlich, die von einem unbewußten Bemühen begleitet wurden, sich ihrer nicht entsinnen zu wollen, was also gar kein echtes Vergessen war, sondern Verdrängung. Aber nach dieser anfänglichen Veränderung im Gehirn begann der langsame Prozeß der Verschlechterung. Die Stärke der Erinnerung war bei verschiedenen Menschen grundsätzlich unterschiedlich, aber, wie es schien, verlor die Speicherung im Gedächtnis allgemein an Deutlichkeit und war schwer zu steuern. So vieles war dem Gehirn eingeprägt, wurde aber nie hervorgeholt. Und wenn man sich niemals an ein Muster erinnerte, es nie wieder hervorholte und probte, dann erfuhr es nie die Verstärkung eines neuerlichen Durchlaufs. Und nach ungefähr 150 Jahren der Speicherung verfiel das Muster, offenbar infolge der angehäuften Quanteneffekte freier Radikale, die sich zufallsweise im Gehirn zusammenfanden, immer schneller. Das war es anscheinend, was den Alten passierte. Ein Prozeß des Zusammenbruchs, der unmittelbar nach einen Ereignis einsetzte, wurde dem Gehirn eingeprägt und erreichte schließlich ein Höchstmaß, wo die Effekte für die beteiligten Schwingungsmuster katastrophal wurden und damit auch für die Erinnerungen. Das war vermutlich ebenso zeitgebunden, dachte Sax beklommen, wie die thermodynamische Trübung der Augenlinse.

Wenn man allerdings all seine Erinnerungen Revue passieren lassen könnte, dann würde das die Muster wieder verstärken, sie auffrischen und die Uhr für den Verfall sozusagen wieder auf Null stellen. Eine Art Langlebigkeitsbehandlung für Dimerenmuster, in der Literatur manchmal als Anamnese oder Verlust durch Vergessen bezeichnet. Nach einer solchen Behandlung würde es leichter sein, sich an ein bestimmtes Ereignis zu erinnern, oder mindestens ebenso leicht, wie es kurz nach dem Eintreten des Ereignisses gewesen war. Das war die allgemeine derzeitige Richtung der Arbeiten über die Verstärkung des Gedächtnisses. Manche bezeichneten die dabei benutzten Drogen und elektrischen Maßnahmen als Nootrope, ein Wort, das Sax als ›auf den Verstand wirkend‹ deutete. Eine Menge Fachausdrücke wurden für den Prozeß in der gängigen Literatur gehandelt. Die Leute durchwühlten ihre griechischen und lateinischen Lexika in der Hoffnung, einen Namen für das Phänomen zu finden. Sax hatte Ausdrücke gesehen wie: Mnemonik, Mnemonistik und Mnemosynik nach der Göttin des Gedächtnisses; auch Mimneskesie von dem griechischen Wort für ›sich erinnenv. Sax zog das Wort Erinnerungsverstärker vor, obwohl er auch Anamnese mochte, welches ihm der genaueste Ausdruck für ihr Vorhaben zu sein schien. Sein Wunsch war die Herstellung eines Anamnestikums.

Aber die praktischen Schwierigkeiten der Ekphorisierung oder des sich Erinnerns an eine vollständige Vergangenheit waren groß. Es galt ja nicht bloß, ein Anamnestikums zu finden, sondern auch der Zeit, die es erfordern würde! Wenn man zwei Jahrhunderte gelebt hatte, erschien es möglich, daß es Jahre dauern könnte, um alle relevanten Ereignisse dieses langen Lebens wieder hervorzuholen.

Offenbar war ein rein chronologischer Durchlauf in mehrfacher Hinsicht nicht praktikabel. Vorzuziehen war eine Art von simultaner Erregung des Systems, die das ganze Netzwerk kräftigte ohne bewußte Erinnerung an jede seiner Komponenten. Ob eine solche Kräftigung elektromechanisch möglich war, wußte niemand. Aber wenn man den Durchgang zum Hippocampus elektrisch stimulieren und beispielsweise eine große Menge Adenosin-Triphosphat über die Blut-Gehirn-Schranke transportieren könnte und damit die langfristige Voraussetzung schuf, die an erster Stelle das Lernen unterstützte; und dann ein Gehirnwellenmuster zur Anregung und Unterstützung der Quantenschwingungen der Mikroröhrchen dazuschaltete und danach das Bewußtsein auf die einem am wichtigsten scheinenden Erinnerungen richtete, während auch der Rest unbewußt verstärkt würde...

Sax machte sich noch weiter stürmische Gedanken in dieser Richtung, erlitt aber jäh Schiffbruch. Da saß er nun Ergebnislos im Wohnzimmer seines Apartments und machte sich selbst Vorwürfe, daß er nicht wenigstens versuchte, seinem Computer etwas einzugeben. Es schien, daß er auf dem Weg gewesen war zu etwas wie ATP, oder war es LTP? Na schön, das war ein echt nützlicher Gedanke, der wiederkommen würde. Daran mußte er glauben. Es lag nahe.

Je mehr er über diese Dinge nachdachte, kam es ihm auch immer wahrscheinlicher vor, daß der Schock über Mayas momentane Amnesie Michel in den raschen Verfall getrieben hatte. Nicht, daß eine solche Erklärung jemals bewiesen werden könnte oder auch wirklich eine Rolle spielte. Aber Michel hätte weder seine noch ihre Erinnerungen überleben wollen. Er hatte sie geliebt als das Projekt seines Lebens, die Definition seiner selbst. Der Schock, daß Maya bei etwas so Fundamentalem und so Wichtigem ausfiel (wie dem Schlüssel zur Wiederherstellung seines Gedächtnisses) ... Die Verbindung von Körper und Geist war so stark, daß wahrscheinlich die Unterscheidung an sich falsch war, ein Nachklang von cartesianischer Metaphysik oder früheren religiösen Ansichten über die Seele. Der Geist war das Leben eines Körpers. Erinnerung war Geist. Und so war nach einer einfachen transitiven Gleichung Erinnerung gleich Geist. Darum war mit verschwundener Erinnerung auch das Leben wertlos. So mußte Michel in dieser letzten traumatischen halben Stunde gefühlt haben, als sein Ich unter der Sorge und dem Kummer über den geistigen Tod seiner Liebe in die verhängnisvolle Arhythmie verfallen war.