»Warst du?« fragte Smadar und sah Sax nachdenklich an.
»Ja.«
An diese Ereignisse hatte Sax seit Jahren nicht mehr zurück gedacht, seit Jahrzehnten. Vielleicht ein Jahrhundert. Er stellte fest, daß er nie wieder in Nicosia gewesen war, nicht seit jener Nacht. Als ob er es gemieden hätte. Ohne Zweifel Verdrängung. Er hatte John sehr gern gehabt, der vor der Ermordung mehrere Jahre für ihn gearbeitet hatte. Sie waren Freunde gewesen. »Ich habe gesehen, wie er angegriffen wurde«, sagte er zur allgemeinen Überraschung.
»Ja, das hast du!« rief Zeyk. Jetzt starrten ihn außer Zeyk auch Nazik und Ursula an, und Marina mit ihnen.
»Was hast du gesehen?« fragte ihn Smadar und schaute kurz auf Zeyks Gehirnbild, das in einem lautlosen Sturm flimmerte. Das war die Vergangenheit — genau so ein stiller, flimmernder elektrischer Sturm. Das war die Arbeit, auf die sie zustrebten.
»Es kam zu einem Handgemenge«, sagte Sax zögernd und unbehaglich und blickte in das Hologramm wie in eine Kristallkugel. »Auf einer kleinen Plaza, wo eine Seitenstraße auf den zentralen Boulevard mündete. Nahe der Medina.«
»Waren es Araber?« fragte die junge Frau.
»Vielleicht«, sagte Sax. Er schloß die Augen; und obwohl er es nicht sehen konnte, konnte er es sich irgendwie vorstellen in einer Art von blindem Sehen. »Ja, das nehme ich an.«
Er öffnete die Augen und sah, wie Zeyk ihn anstarrte. »Hast du sie erkannt?« krächzte Zeyk. »Kannst du mir sagen, wie sie ausgesehen haben?«
Sax schüttelte den Kopf. Aber das schien ein Bild loszuschütteln — schwarz und dennoch präsent. Das Video zeigte die dunklen Straßen von Nicosia, mit Licht flackernd wie der Gedanke in Zeyks Gehirn. »Ein großer Mann mit schmalem Gesicht und schwarzem Schnurrbart. Sie hatten alle schwarze Schnurrbarte, aber dieser war länger; und er schrie die anderen Männer an, die Boone angriffen, aber nicht Boone selbst.«
Zeyk und Nazik schauten einander an. »Yussuf«, sagte Zeyk. »Yussuf und Nejm. Sie führten damals die Fetah an und waren wütender auf Boone als irgendeiner von den Ahad. Und als Selim später in der Nacht sterbend bei uns erschien, sagte er: Boone hat mich getötet. Boone und Chalmers. Er sagte nicht: Ich habe Boone getötet; er sagte: Boone hat mich getötet.« Er sah wieder Sax an. »Aber was ist danach geschehen? Was hast du gemacht?«
Sax erschauerte. Das war es, warum er niemals nach Nicosia zurückgekehrt war und sich jeden Gedanken daran verboten hatte. In jener Nacht, in dem kritischen Moment, hatte er gezögert. Er hatte Angst gehabt. »Ich habe sie von der anderen Seite der Plaza aus gesehen, Ich war in einiger Entfernung und wußte nicht, was ich tun sollte. Sie haben John niedergeschlagen. Sie haben ihn fortgezerrt. Ich — habe zugesehen. Dann — war ich in einer Gruppe, die hinter ihnen her lief. Ich weiß nicht, wo der Rest war. Sie zogen mich mit. Aber die Angreifer schleppten ihn durch jene Nebenstraßen; und im Dunkeln... hat unsere Gruppe sie verloren.«
»In deiner Gruppe gab es wahrscheinlich Freunde der Angreifer«, sagte Zeyk. »Und zwar ganz gezielt, um dich bei der Verfolgung auf den falschen Weg zu führen.«
»Ah!« sagte Sax. Es hatte in der Gruppe Männer mit Schnurrbärten gegeben. »Möglich.«
Er fühlte sich schlecht. Er hatte gefroren und nichts getan. Die Schirmbilder flimmerten. In der Dunkelheit blitzte es auf, und Zeyks Cortex war mit mikroskopischen bunten Schlaglichtern erhellt.
»Also war es nicht Selim«, sagte Zeyk zu Nazik. »Und auch nicht Frank Chalmers.«
»Wir sollten es Maya sagen«, Nazik sprach nachdrücklich. »Sie muß es wissen.«
Zeyk zuckte die Achseln. »Das wird sie nicht kümmern. Wenn Frank Selim auf John angesetzt hat, aber ein anderer die Tat begangen hat, spielt das eine Rolle?«
»Aber du denkst, es war jemand anders«, hakte Snadar nach.
»Ja. Yusuf und Nejm. Die Fetah. Oder wer sonst die Leute gegeneinander aufgehetzt hat. Nejm, vielleicht ...«
»Der tot ist.«
»Und Yusuf auch«, sagte Zeyk grimmig. »Und wer auch immer den Krawall in jener Nacht ausgelöst hat... « Er schüttelte den Kopf, und das Bild über ihm zitterte leicht.
»Erzähl mir, was danach geschehen ist!« sagte Smadar und blickte auf ihren Schirm.
»Unsi al-Khan kam in den Hajr gelaufen, um uns zu sagen, daß Boone angegriffen worden war. Unsi... nun, jedenfalls ging ich mit einigen anderen zum Syrischen Tor, um zu sehen, ob es benutzt worden war. Die arabische Methode der Exekution war damals, daß man jemanden hinaus auf die Oberfläche warf. Wir entdeckten, daß das Tor einmal benutzt, aber niemand dadurch zurückgekommen war.«
»Erinnerst du dich an den Code des Tores?« fragte Smadar.
Zeyk runzelte die Stirn, seine Lippen bewegten sich, die Augen waren zugekniffen. »Es waren Teile der Fibonacci-Reihe. Ich entsinne mich, das damals bemerkt zu haben: Fünf — acht — eins — drei — zwei — eins.«
Sax schnappte nach Luft. Smadar nickte: »Fahr fort!«
»Dann kam eine Frau, die ich nicht kannte, vorbeigelaufen und sagte, man hätte Boone in der Farm gefunden. Wir folgten ihr zur medizinischen Klinik in der Medina. Die war neu, alles war blitzsauber und an den Wänden hingen noch keine Bilder. Sax, du warst dort und der Rest der Ersten Hundert in der Stadt: Chalmers und Toitovna und Samantha Hoyle.«
Sax stellte fest, daß er sich überhaupt nicht an die Klinik erinnern konnte. Halt... ein Bild von Frank mit gerötetem Gesicht und Maya in einem weißen Domino, ihr Mund ein blutleerer Strich. Aber das war draußen gewesen auf dem mit Glassplittern übersäten Boulevard. Er hatte ihnen von dem Angriff auf Boone erzählt, und Maya hatte sofort geschrien: »Hast du sie aufgehalten?« Und er hatte sofort erkannt, daß er versagt hatte, daß er sie nicht aufgehalten hatte, seinem Freund nicht geholfen hatte, daß er im Schock erstarrt dagestanden und zugesehen hatte, wie sein Freund angegriffen und weggezerrt wurde. Er hatte zu Maya gesagt: »Wir haben es versucht. Ich habe es versucht.« Obwohl das nicht stimmte.
Aber später in der Klinik? — nichts. Ihm fiel wirklich nichts über den ganzen Rest jener Nacht ein. Er schloß wie Zeyk die Augen und preßte die Lider zu, als ob das ein anderes Bild heraus quetschen könnte. Aber nichts kam. Das Gedächtnis war so merkwürdig. Er erinnerte sich an kritische traumatische Momente, wenn diese Erkenntnisse sich in ihn eingebohrt hatten. Der Rest war verschwunden. Sicher mußten das limbische System und die emotionale Belastung jedes Vorfalls entscheidend in der Befrachtung oder Encodierung oder Einbettung einer Erinnerung beteiligt sein.
Aber dann wiederum Zeyk, der langsam jede Person nannte, die er in dem Warteraum der Klinik gekannt hatte, obwohl dieser dicht gefüllt gewesen sein mußte. Dann beschrieb er das Gesicht der Ärztin, die herausgekommen war, um ihnen Boones Tod zu melden. »Sie sagte: ›Er ist tot. Zu lange draußen gewesene Maya legte Frank eine Hand auf die Schulter, und er zuckte zusammen.«
Nazik flüsterte: »Wir müssen es Maya sagen.«
»Er sagte zu ihr: ›Es tut mir leid‹, was ich seltsam fand. Sie sagte daraufhin zu ihm, daß er ja John ohnehin nie gemocht hätte, was richtig war. Und Frank stimmte sogar zu, ging dann aber fort. Er sagte: ›Was weißt du denn davon, was ich mag oder nicht mag?‹ So bitter. Ihm gefiel diese Mutmaßung nicht, der Gedanke, daß sie ihn kannte.« Zeyk schüttelte den Kopf.
»War ich während dieser Zeit dort?« fragte Sax.
»...Ja. Du hast auf der anderen Seite von Maya gesessen. Aber du warst abgelenkt. Du hast geweint.«
Sax fiel davon absolut nichts mehr ein. Plötzlich erinnerte er sich, daß ebenso, wie es viele Dinge gab, die er getan hatte und von denen niemals jemand etwas wissen würde, es auch Dinge gab, die er getan hatte und an die sich andere erinnerten, während er selbst sich nicht darauf besinnen konnte. So wenig wußten sie! So wenig!