Sax sah und fühlte ein Bild. Helle Lichter und eine Empfindung, als ob sein Schädel zertrümmert würde. Er würgte, keuchte und spuckte. Kühle Luft und die Stimme seiner Mutter wie das Jaulen eines Tiers. »Oh? Oh? Oh! Oh!« Dann lag er feucht und kalt auf ihrer Brust.
Der Hippocampus ist eine von etlichen Regionen des Gehirns, die durch die Behandlung sehr stark stimuliert werden. Dies bedeutet, daß sein limbisches System, das unter dem Hippocampus liegt wie ein Netz unter einer Walnuß, ebenso stimuliert wird, als ob die Nuß auf einem Trampolin von Nerven auf und ab hüpft, so daß das Trampolin widerhallt oder sogar kreischt. So empfand Sax den Anfang von etwas, das ohne Zweifel eine Flut von Emotionen sein würde, die, wie er bemerkte, nicht eine einzelne Emotion sein würde, sondern viele zugleich und mit fast derselben Intensität und frei von jeder Ursache — Freude, Kummer, Liebe, Haß, Heiterkeit, Melancholie, Hoffnung, Furcht, Edelmut, Eifersucht — von denen viele natürlich nicht zu ihrem Gegenstück paßten oder mit den meisten anderen, die gleichzeitig in ihm präsent waren. Das Resultat dieser übervollen Mischung war, zumindest für Sax, der auf einer Bank außerhalb des Tonnengewölbes saß und schwer atmete, eine Art von unter Adrenalin stehender atemberaubender Zunahme der Empfindung von Bedeutung. Eine Überflutung von Bedeutung durch alles. Es war herzzerbrechend oder herzerfüllend, als ob Ozeane von Wolken in seine Brust gestopft worden wären, so daß er kaum atmen konnte, eine Art von Nostalgie in der n-ten Potenz, eine Fülle, sogar Wonne, reine Gehobenheit, bloß dazusitzen, bloß die Tatsache, daß sie alle am Leben waren! Aber all dies mit einer Schärfe von Verlust, von Bedauern wegen der verlorenen Zeit, von Todesangst, von Furcht vor allem, von Trauer um Michel, um John, wirklich um sie alle. Das war dem gewöhnlichen ruhigen, beständigen, man könnte sogar sagen: phlegmatischen Zustand Saxens so unähnlich, daß er fast gelähmt war. Er konnte sich nicht richtig bewegen und bedauerte einige Minuten lang bitterlich, je ein solches Experiment in Gang gesetzt zu haben. Das war sehr töricht und idiotisch tollkühn, daß ein jeder ihn ohne Zweifel für immer dafür hassen würde.
Benommen, fast überwältigt, beschloß er, einen Spaziergang zu wagen, um zu sehen, ob das seinen Kopf klären könnte. Er stellte fest, daß er gehen konnte. Er stieß sich von der Bank ab, stand auf, gewann das Gleichgewicht und ging los. Er vermied andere, die in ihren eigenen Welten wanderten und denen er so gleichgültig war wie sie ihm. Alle gingen aneinander vorbei wie an Objekten, die man vermeiden mußte. Und dann war er draußen im freien Raum der Umgebung von Underhill in der kühlen morgendlichen Brise und ging unter einem seltsam blauen Himmel auf die Salzpyramiden zu.
Er blieb stehen und schaute sich um, überlegte, grunzte überrascht und machte halt, konnte nicht gehen. Ganz plötzlich konnte er sich an alles erinnern.
Nicht gerade an alles und jedes. Er konnte sich beispielsweise nicht daran erinnern, was er am 13. Tag des zweiten Augustes 2029 zum Frühstück gehabt hatte. Das paßte zu Experimenten, die nahelegten, daß tägliche gewohnte Aktivitäten nicht genügend differenziert wären, um individuelle Erinnerung zu bewirken. Aber als eine Klasse... In den späten 2020ern hatten seine Tage wieder im Tonnengewölbe begonnen, wo er sich mit Hiroko, Evgenia, Rya und Iwao ein Schlafzimmer im oberen Stockwerk geteilt hatte. Experimente, Ereignisse, Gespräche flimmerten in seinem Kopf, als er diesen Schlafraum mit dem Auge des Geistes erblickte. Ein Knoten in der Raumzeit, der durch ein ganzes Netz von Tagen vibrierte. Ryas hübscher Rücken auf der anderen Seite des Zimmers, wenn sie sich unter den Armen wusch. Dinge, die Leute sagten und die in ihrer Rücksichtslosigkeit verletzten. Vlad, wenn er über Gen-Spaltung sprach. Er und Vlad hatten hier an dieser Stelle beieinander gestanden in ihrer ersten Minute auf dem Mars und sahen sich um ohne ein Wort füreinander. Sie absorbierten einfach die Schwere und das Rosa des Horizonts und den nahen Horizont, der genau so aussah wie jetzt nach so vielen Jahren. Areologische Zeit, so langsam und lang wie die große Systole des Kosmos. Man hatte sich in den Außenanzügen hohl gefühlt. Tschernobyl hatte mehr Beton erfordert, als in der dünnen, trockenen und kalten Luft beschafft werden konnte. Nadia hatte das irgendwie erledigt, aber wie? Durch Erwärmung, das ist richtig. Nadia hatte in jenen Jahren eine Menge Dinge in Ordnung gebracht. Die Tonnengewölbe, die Manufakturen, die Arkade... Wer hätte gedacht, daß sich eine auf der Ares so stille Person als so kompetent und energisch erweisen würde? Er hatte sich an seinen Eindruck von ihr auf der Ares seit sehr langer Zeit nicht mehr erinnert. Sie war so erschüttert gewesen, als Tatiana Durova durch einen umstürzenden Kran getötet wurde. Das war für alle ein Schock gewesen — außer für Michel, der sich als erstaunlich distanziert von der Katastrophe erwiesen hatte, dem ersten Todesfall. Würde Nadia sich jetzt noch daran erinnern? Ja, das würde sie, wenn sie daran gedacht hätte. Für Sax gab es nichts Einmaliges; oder, um genauer zu sein, wenn die Behandlung bei ihm anschlug, würde sie es auch bei ihnen allen tun. Da war Wasili, der in beiden Revolutionen für UNOMA gekämpft hatte. An was erinnerte er sich? Er sah betroffen aus; aber das konnte Begeisterung gewesen sein — irgend etwas oder alles. Höchstwahrscheinlich war es die allgemeine Emotion, die Fülle — offenbar einer der ersten Effekte der Behandlung. Vielleicht erinnerte er sich auch an Tatianas Tod. Nur Sax und Tatiana waren damals zu einem Spaziergang in der Antarktis hinausgegangen, und Tatiana war auf einem lockeren Stein ausgerutscht und hatte sich einen Knöchel verrenkt, und sie hatten warten müssen, bis Nussbaum Riegel sie mit einem Helikopter von McMurdo ins Lager zurückbrachte. Er hatte das seit Jahren vergessen; und dann hatte Phyllis ihn an die Nacht erinnert, wo sie ihn festgenommen hatte, und er hatte das prompt bis zu diesem Moment wieder vergessen. Zwei Wiederholungen in zweihundert Jahren. Aber jetzt war es wieder da: Die niedrige Sonne, die Kälte, die Schönheit der Dry Valleys, die Eifersucht von Phyllis auf die große dunkle Schönheit Tatianas. Daß diese Schönheit zuerst sterben sollte, war wie ein Signal, ein alter Fluch. Mars als Pluto, Planet von Furcht und Schrecken. Und jetzt jener Tag in Antarctica, die zwei Frauen längst tot. Er war der einzige Überlieferer jenes Tages. Ohne ihn würde er ausgelöscht sein. O ja, woran man sich erinnern konnte, war genau der Teil der Vergangenheit, den man am stärksten empfunden hatte, die durch Emotionen über eine gewisse Schwelle gedrängten Ereignisse. Die großen Freuden, die großen Krisen, die großen Katastrophen. Aber auch die kleinen. Er war von dem Basketballteam des siebten Grades ausgeschlossen worden, hatte allein geweint, als er die Liste las, an einer Trinkfontäne am äußersten Ende der Schule, und hatte gedacht: Das wirst du nie vergessen. Aber, bei Gott, er hatte es behalten. Große Schönheit. Das erste Mal, daß man Dinge tat, die eine besondere Bedeutung hatten. Die erste Liebe — wer war das eigentlich gewesen? Eine leere Stelle, damals in Boulder, ein Gesicht, irgendeine Freundin eines Freundes. Aber das war keine Liebe gewesen, und er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern. Nein — jetzt dachte er an Ann Clayborne, die vor ihm stand, ihn fest anschaute — irgendwann vor langer Zeit. Was hatte er versucht, sich in Erinnerung zu rufen? Der Sturm der Gedanken war so dicht und rasch, daß er sich an manches würde nicht erinnern können. Dessen war er sich recht sicher.
Ein Paradoxon, aber nur eines von vielen, die der einzelne Faden des Bewußtseins in dem riesigen Feld des Geistes bewirkte. Eine Kraft von zehn in der vierunddreißigsten Potenz, die Matrix, in der alle großen Vorkommnisse gediehen. Im Innern des Schädels war ein Universum — so ungeheuer groß wie das draußen. Ann — er hatte auch mit ihr einen Ausflug in Antarctica gemacht. Sie war kräftig. Seltsamerweise hatte er sich während des Ausflugs über die Caldera von Olympus Mons niemals an diesen Spaziergang über Wright Valley in Antarctica erinnert, trotz der Ähnlichkeiten, einen Spaziergang, auf dem sie so ernst über das Schicksal des Mars diskutiert hatten und wo er so sehr gewünscht hatte, ihre Hand zu ergreifen, oder daß sie die seine nehmen würde. Warum hatte er so für sie geschwärmt? Und er, der sich in seiner Laborratten-Art nie zu solchen Gefühlen aufgeschwungen hatte, erstickte jetzt aus lauter Schüchternheit. Sie hatte ihn neugierig angeschaut, aber die Bedeutung der Situation nicht verstanden und sich nur gewundert, daß er so stotterte. Er hatte als Junge ein wenig gestottert. Das war ein biochemisches Problem, das anscheinend durch die Pubertät verschwand, aber gelegentlich wiedererschien, wenn er nervös war. Ann — Ann — er sah ihr Gesicht, als er mit ihr diskutierte auf der Ares, in Underhill, in Dorsa Brevia, im Lagerhaus von Pavonis. Warum immer dieser Angriff auf eine Frau, die ihn so angezogen hatte? Warum? Sie war so stark. Und dennoch hatte er sie so deprimiert gesehen, als sie hilflos auf dem Boden lag in jenem Felsenwagen, viele Tage lang, als ihr roter Mars starb. Einfach so dagelegen. Aber dann hatte sie sich aufgerappelt und weitergemacht. Sie hatte Maya davon abgehalten, ihn anzuschreien. Sie hatte geholfen, ihren Partner Simon zu begraben. Sie hatte all das getan, und niemals war Sax für sie etwas anderes gewesen als eine Last. Ein Teil ihres Leides. Das ist es, was er für sie war. In Zygote oder Gamete war er wütend auf sie — Gamete — tatsächlich in beiden — ihr Gesicht so verzerrt — und dann hatte er sie zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Und dann später, als er ihr die Langlebigkeitsbehandlung aufgezwungen hatte, hatte er sie seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen. All diese Zeit vergeudet. Wenn sie tausend Jahre lang leben würden, wäre das nicht lange genug, um eine solche Vergeudung zu rechtfertigen.