Sax und Ann fuhren schweigend davon, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Sax blickte auf das Stadtschiff zurück und dachte über das nach, was sie an diesem Tag gesehen hatten. Es schien ein gutes Leben zu sein. Aber etwas daran... Er verscheuchte den Gedanken und fing ihn dann am Ende des raschen Hindernisrennens wieder ein und hielt ihn fest: In diesen Tagen hatte es keine Ausfälle gegeben. Das war eine große Befriedigung, obwohl dieser ganze Gedankengang rein melancholisch war. Sollte er ihn mit Ann teilen? War es möglich, so etwas zu sagen?
Dann sagte er: »Es scheint ironisch, aber manchmal bedauere ich, wenn ich diese Seefahrer und das Leben, das sie führen, so sehe, daß wir erst auf der Schwelle eines goldenen Zeitalters stehen...« — so, nun hatte er es ausgesprochen und fühlte sich töricht —, »...das erst kommen wird, wenn unsere Generation gestorben ist. Wir haben unser ganzes Leben dafür gearbeitet; und dann müssen wir gehen, ehe es soweit ist.«
»Wie Moses angesichts des verheißenen Landes.«
»Ja? — Ist er nicht hineingekommen?« Sax schüttelte den Kopf. »Diese alten Geschichten...« So ein Zusammentreffen. Wie die Wissenschaft in seinem Herzen, wie das Aufblitzen von Einsicht, wenn man an ein Experiment heranging und alles dabei geklärt war und man einiges verstand. »Nun, ich kann mir vorstellen, wie er sich gefühlt hat. Das ist — frustrierend. Ich würde lieber sehen, was danach geschieht. Manchmal werde ich so neugierig. Über die Geschichte werden wir nie etwas erfahren. Die Zukunft nach unserm Tod. Und alles übrige. Weißt du, was ich meine?«
Ann sah ihn prüfend an. Schließlich sagte sie: »Alles stirbt eines Tages. Besser du denkst, daß du ein goldenes Zeitalter verfehlst, als zu denken, daß du die Chancen deiner Kinder mit dir genommen hast. Daß du deine Nachkommen mit giftigen langfristigen Schulden aller Art zurückgelassen hast. Das wäre doch wirklich deprimierend. So wie es ist, müssen wir uns nur für uns selbst schlecht fühlen.«
»Stimmt.«
Und das war Ann’ Clayborn, die da sprach. Sax fühlte, daß sein Gesicht glühte. Diese kapillare Aktivität konnte eine ganz angenehme Empfindung sein.
Sie kehrten zum Archipel von Oxia zurück und segelten zwischen den Inseln und redeten darüber. Es war möglich, sich zu unterhalten. Sie aßen im Cockpit und schliefen jeder in seiner Kabine in den Rümpfen im Back- und Steuerbord. An einem frischen Morgen, als der Wind kühl und aromatisch von der Küste her wehte, sagte Sax: »Ich frage mich immer noch, ob auch Braun eine Möglichkeit wäre.«
Ann sah ihn an. »Und wo ist das Rot darin?«
»Nun, in dem Wunsch, die Dinge zu bewahren, wie sie sind. Einen großen Teil des Landes unangetastet zu lassen. Die Areophanie.«
»Das ist immer Grün gewesen. Es klingt wie Grün mit nur einer kleinen Spur von Rot, wenn du mich fragst. Khaki.«
»Ja, das nehme ich an. Das wären Irishka und die Koalition des Freien Mars, nicht wahr? Aber auch gebranntes Umbras, Siennas, Alizarins und Indischrote.«
»Ich glaube nicht, daß es Indischrote gibt.« Und sie lachte dunkel.
Sie lachte wirklich häufig, obwohl der darin ausgedrückte Humor oft recht bissig war. Eines Abends war Sax in seiner Kabine und sie nahe dem Bug ihres Rumpfes (sie hatte das Backbord belegt, er das Steuerbord), und er hörte sie laut lachen, herauskommen und sich umschauen. Er dachte, es könnte durch den Anblick von Pseudophobos bewirkt sein (die meisten Leute nannten ihn einfach Phobos), der, auf seine alte Art, wieder schnell im Westen aufging. Die Monde des Mars segelten wieder durch die Nacht, wie kleine graue Kartoffeln, die sich kaum voneinander unterschieden. Aber es gab sie. Wie auch dieses dunkle Lachen bei ihrem Anblick.
Als sie sich eines Abends in ihre Rümpfe zurückzogen, frage Ann: »Hältst du diese Übernahme von Clarke für ernst?«
»Das ist schwer zu sagen. Manchmal denke ich, es könnte nur eine Drohgebärde sein; denn wenn es ernst wäre, wäre es ziemlich dumm. Sie müssen wissen, daß Clarke sehr verwundbar ist hinsichtlich — seiner Beseitigung.«
»Kasei und Dao fanden nicht, daß er leicht zu beseitigen war.«
»Nein, aber...« Sax wollte nicht sagen, daß deren Versuch verpfuscht worden war, aber er befürchtete, daß sie aus seinem Schweigen diese Bemerkung herauslesen könnte. »Wir in Da Vinci haben in der Caldera von Arsia Mons einen Röntgenlaser installiert, der hinter einem Felsschirm in der Nordwand versteckt ist; und wenn wir ihn einschalten, wird das Kabel genau in dem areosynchronen Punkt schmelzen. Es gibt kein Verteidigungssystem, das das verhindern könnte.«
Ann starrte ihn an. Er zuckte die Achseln. Er war nicht persönlich für die Aktionen von Da Vinci verantwortlich, ganz gleich, was die Leute dachten.
»Aber der Fall des Kabels«, sagte sie und schüttelte den Kopf, »würde viele Menschen umbringen.«
Sax erinnerte sich, wie Peter den Sturz des ersten Kabels überlebt hatte, indem er in den Weltraum hinausgesprungen war. Durch Zufall gerettet. Vielleicht würde Ann weniger leicht die Leben abschreiben, die unvermeidlich verloren gehen würden. Er sagte: »Das ist wahr. Es ist keine gute Lösung. Aber es könnte so gemacht werden, und ich könnte mir vorstellen, daß die Terraner das wissen.«
»Also ist es vielleicht bloß eine Drohung.«
»Ja. Sofern sie nicht darauf vorbereitet sind, noch weiter zu gehen.«
Nördlich des Oxia-Archipels passierten sie die McLaughin-Bucht, die Ostseite eines überschwemmten Kraters. Nördlich davon war Mawrth Point und dahinter der Eingang zum Mawrth-Fjord, einem der engsten und längsten Fjorde von allen. Man mußte ständig lavieren, um hindurch zu fahren, wobei man von tückischen Winden hin und her gedrückt und zwischen steilen gewundenen Wänden herumgewirbelt wurde. Aber Sax schaffte es irgendwie, denn es war ein hübscher Fjord, am Boden eines sehr tiefen und engen Ausbruchkanals, der sich erweiterte, sobald man weiter hineinfuhr. Und dahinter und über dem Ende des Wassers setzte sich der Canyon mit steinernem Boden weiter ins Landesinnere fort, so weit man sehen konnte und noch viele Kilometer darüber hinaus. Sax hoffte, Ann zeigen zu können, daß die Existenz der Fjorde nicht unbedingt das Überfluten aller Ausbruchkanäle bedeutete. Ares und Kasei hatten auch sehr lange Canyons über dem Meeresniveau behalten und ebenso Al-Kahira und Ma’adim. Aber er sagte nichts davon, und Ann machte keine Bemerkungen.
Nach dem Manövrieren in Mawrth fuhr er fast genau nach Westen. Um aus der Chryse-Bucht in die Acidalia-Region des Nordmeeres zu gelangen, mußte man sich um ein langes Landstück herumarbeiten, das Sinai-Halbinsel hieß und vor der Westseite von Arabia Terra in den Ozean ragte. Die Meerenge, welche die Chryse-Bucht mit dem Nordmeer verband, war 500 Kilometer breit. Aber ohne die Sinai-Halbinsel wären es 1500 Kilometer gewesen.
Also segelten sie nach Westen in den Wind, Tag um Tag, redend oder still. Oft kamen sie darauf zurück, was es bedeuten könnte, Braun zu sein. »Vielleicht sollte man diese Kombination Blau nennen«, sagte Ann eines Abends und blickte über die Seite auf das Wasser. »Braun ist nicht sehr attraktiv und riecht nach Kompromiß. Vielleicht sollten wir an etwas völlig Neues denken.«
»Vielleicht sollten wir.«
Abends nach dem Essen und nachdem sie einige Zeit die über der spiegelnden Oberfläche der See schwimmenden Sterne angeschaut hatten und sie sich in ihre Rumpfkabinen zurückgezogen hatten, manövrierte der Computer sie langsam durch die Nacht und umging die gelegentlichen Eisberge, die in dieser Breite aufzutauchen begannen, und brachte sie aus der Bucht ins Nordmeer.
Es war recht angenehm.
Eines Morgens wachte Sax früh auf. Er war durch eine große Woge unter dem Rumpf, die sein schmales Bett auf und ab stieß, aufgescheucht worden. Sein träumender Geist hatte das als ein riesiges Pendel gedeutet, das sie in die eine und andere Richtung schwenkte. Er zog sich etwas mühsam an und ging an Deck. Und Ann, die an den Falleinen stand, rief: »Es scheint, daß die Grunddünung und die Windstöße ein positives Interferenzmuster bilden.«