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Sie erwachte in einer Stille, die so perfekt war, daß sie ihren Herzschlag hören konnte. Sie konnte sich nicht erinnern, wo sie war. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie waren im Haus von Nadia und Art an der Küste der Hellas-See knapp westlich von Odessa. Tap, tap, tap. Dämmerung, der erste Schimmer des Tages. Nadia draußen am Bau. Sie und Art wohnten am Ende ihres Stranddorfs in dem Komplex ihrer Koop aus verschachtelten Häusern, Pavillons, Gärten und Wegen. Eine Gemeinde von etwa hundert Personen, mit etwa hundert verbunden, die ihnen glichen. Offenbar arbeitete Nadia immer noch an der Infrastruktur. Tap, tap, tap! Sie baute gerade ein Deck, das einen Zygote-Bambusturm umlaufen sollte.

Im nächsten Zimmer atmete jemand. Zwischen den Räumen war eine offene Tür. Sie richtete sich auf. Vorhänge an der Wand. Sie zog sie einen Spalt auf. Frühdämmerung. Grau in Grau. Ein karges Zimmer. Sax lag im nächsten Zimmer auf einem großen Bett unter dicken Decken.

Ihr war kalt. Sie stand auf und tapste durch die Tür in sein Zimmer. Sein Gesicht auf dem breiten Kissen war schlaff. Ein alter Mann. Sie kroch zu ihm unter die Decken ins Bett. Er war warm. Er war kleiner als sie, klein und rund. Sie wußte das, sie kannte ihn von der Sauna und den Teichen in Underhill und den Bädern in Zygote. Ein anderer Teil ihres kommunalen Körpers. Tap, tap, tap, tap. Er rührte sich, und sie umschlang ihn. Er kuschelte sich wieder an sie, immer noch in tiefem Schlaf.

Während des Gedächtnisexperiments hatte sie sich auf den Mars konzentriert. Michel hatte einmal gesagt: Deine Aufgabe ist es, den Mars zu finden, der alles überdauert. Und der Anblick derselben Hügel und Täler um Underhill hatte sie stark an die frühen Jahre erinnert, als über jedem Horizont etwas Neues lauerte. Das Land. In ihrem Geist dauerte es noch an. Die Leichtigkeit, die enge Vertrautheit mit dem Horizont, wo alles fast greifbar war. Dann die plötzlichen immensen Perspektiven, wenn etwas von der Nachbarschaft des Großen Mannes in Sicht kam. Die weiten Klippen, die tiefen Canyons, die kontinentalen Vulkane und das wilde Chaos. Die gigantische Kalligraphie aus areologischer Vorzeit. Die die Welt einhüllenden Dünen. Sie würden es nie wissen. Es war unvorstellbar.

Aber sie hatte es kennengelernt. Und während des Gedächtnisexperiments hatte sie ihren Geist während eines ganzen Tages darauf konzentriert, der zehn Jahre zu dauern schien. Nicht einmal an die Erde gedacht. Das war ein Trick, eine enorme Anstrengung gewesen. Bloß nicht an das Wort Elefant denken! Aber das hatte sie auch nicht. Das war ein Trick, den sie zu beherrschen gelernt hatte, die einseitig gerichtete Achtsamkeit des großen Verweigerers, eine Art von Stärke. Vielleicht. Und dann kam Sax über den Horizont geflogen und rief: Denk an die Erde! Denk an die Erde? Es war fast komisch.

Aber das war Antarctica gewesen. Ihr so trickreicher und konzentrierter Geist hatte gesagt: Das ist eben Antarctica, ein Stück Mars auf der Erde, ein verlagerter Kontinent.

Das Jahr, das sie dort verbracht hatten, war ein Vorgriff auf die Zukunft gewesen. In den Dry Valleys waren sie auf dem Mars gewesen, ohne es zu wissen. Darum konnte sie sich daran erinnern, ohne wieder auf die Erde geführt zu werden. Es war nur ein Ur- Underhill gewesen, ein Underhill mit Eis, und ein anderes Camp, aber die gleichen Leute und die gleiche Situation. Und als sie daran dachte, war ihr tatsächlich alles wieder gegenwärtig geworden in der Magie einer anamnetischen Verzauberung. Jene Gespräche mit Sax; wie sehr sie jemanden geliebt hatte, der in der Wissenschaft ebenso einsam war wie sie, wie sie sich von ihm angezogen fühlte. Niemand hatte verstanden, wie weit man sich da hineinbegeben konnte. Und dort draußen in jener reinen Weite hatten sie diskutiert. Nacht für Nacht. Über den Mars. Technische Aspekte, philosophische Aspekte. Sie waren sich nicht einig gewesen. Aber sie waren zusammen da draußen gewesen.

Aber nicht völlig. Er war durch ihre Berührung schockiert gewesen. Armes Fleisch. So hatte er gedacht. Offenbar war sie im Unrecht gewesen. Das war sehr schade; denn wenn sie beide sich verstanden hätten, hätte sich vielleicht die ganze Geschichte geändert. Und hier waren sie nun.

Und bei all dem Sturz in jene Vergangenheit hatte sie niemals an die weiter im Norden liegende Erde gedacht, an die frühere Erde. Sie war in der antarktischen Konvergenz geblieben. Tatsächlich hatte sie die meiste Zeit auf dem Mars verbracht, dem Mars ihres Geistes, dem Roten Mars. Jetzt besagte die Theorie, daß die anamnetische Behandlung das Gedächtnis stimulierte und das Bewußtsein veranlaßte, die assoziativen Komplexe von Knoten und Netzwerk durch die ganzen Jahre noch mal durchzugehen. Die Wiederholung kräftigte die Erinnerungen in ihrem physikalischen Geflecht, da es sich um ein verblassendes Feld von Mustern handelte, die durch Quantenschwingung gebildet wurden. Alles in der Erinnerung wurde wieder verstärkt; und das, an was man sich nicht erinnerte, wurde vielleicht nicht wieder verstärkt und konnte auf diese Weise eine Beute von Bruch, Irrtum,Quantenkollaps und Zerfall werden. Und vergessen werden.

Also war sie jetzt eine neue Ann. Nicht die Gegen-Ann, nicht einmal jene im Schatten stehende dritte Person, die sie so lange gequält hatte. Eine neue Ann. Endlich eine voll marsianische Ann. Auf einem braunen Mars neuer Art, rot, grün, blau — alles durcheinander gewirbelt. Oder wirklich auf einem grünen Mars, zugegebenermaßen, einem grünen Mars. Und falls es noch eine terranische Ann geben würde, die in einem verlorenen eigenen Quantenkabinett hockte, so war das eben das Leben. Kein Schreckgespenst ging jemals bis zum Tode oder der endgültigen Auflösung verloren. Und so sollte es vielleicht auch sein. Man wollte nicht zu viel verlieren, oder es gäbe Schwierigkeiten anderer Art. Es mußte ein Gleichgewicht gewahrt werden. Und hier jetzt auf dem grünen Mars war sie die marsianische Ann, nicht mehr eine Issei, sondern eine ältliche neue Eingeborene, eine auf der Erde geborene Yonsei. Die Martianische Ann Clayborn im Moment, im einzigen Moment. Es war ein gutes Gefühl, hier zu liegen.

Sax rührte sich in ihren Armen. Sie schaute auf sein Gesicht. Ein anderes Gesicht, aber immer noch Sax. Sie hatte einen Arm auf ihn gelegt und fuhr mit einer kalten Hand über seine Brust. Er wachte auf, sah, wer es war, und lächelte leicht verschlafen. Er reckte sich, drehte sich um und drückte sein Gesicht auf ihre Schulter. Er küßte ihren Hals mit einem leichten Biß. Sie hielten einander fest, wie sie es in dem fliegenden Boot während des Sturms getan hatten. Eine wilde Fahrt. Es würde Spaß machen, sich im Himmel zu lieben. Nicht praktisch bei einem solchen Wind. Ein andermal. Sie fragte sich, ob Matratzen genau so gemacht würden wie früher üblich. Diese hier war hart.

Sax war nicht so weich, wie er aussah. Sie umarmten sich innig. Sexualkongress. Er war in ihr und bewegte sich. Sie packte ihn und drückte ihn sehr, sehr hart an sich.

Jetzt küßte er sie überall, knabberte an ihr, unter den Decken. Er fuhr wie ein U-Boot umher. Sie spürte ihn am ganzen Körper. Gelegentlich seine Zähne, aber meistens war es das Lecken seiner Zungenspitze über ihre Haut, wie eine Katze. Leck, leck, leck. Ein angenehmes Gefühl. Er summte oder brummte. Seine Brust vibrierte mit. Es war wie Schnurren: »Rrrr, rrr, rrrrrr.« Ein friedlicher schwelgerischer Ton. Es fühlte sich auch für ihre Haut gut an. Vibration, Katzenzunge, leichtes Lecken überall auf ihr. Sie hob die Decke so, daß sie auf ihn hinabblicken konnte.

Er flüsterte: »Nun, was ist ein besseres Gefühl? A?« Er küßte sie. »Oder b?« Er küßte sie an einer anderen Stelle.

Sie mußte lachen. »Sax, halt den Mund und tu’s!«

»Ah! Okay.«

Sie frühstückten mit Nadia und Art und den anwesenden Mitgliedern ihrer Familie. Ihre Tochter Nikki war mit ihrem Gatten und drei anderen Paaren aus ihrer Koop fort zu einem Ausflug in die Wildnis des Hellespontus-Gebirges. Sie waren am vorangegangenen Abend mit einem Gepolter aufgeregter Erwartung aufgebrochen, selbst wie kleine Kinder, und hatten ihre Tochter Francesca und auch die Kinder der Freunde dagelassen: Nanao, Boone und Tati. Francesca und Boone waren beide fünf, Nanao drei und Tati zwei. Sie alle fanden es aufregend, beisammen zu sein und bei Francescas Großeltern. Heute wollten sie an den Strand gehen. Ein großes Abenteuer. Während des Frühstücks trafen sie logistische Entscheidungen. Sax würde mit Art zu Hause bleiben und ihm beim Pflanzen einiger neuer Bäume in einen Olivenhain helfen, den Art auf dem Hügel hinter dem Haus anlegte. Sax wollte auch auf zwei Besucher warten, die er eingeladen hatte: Nirgal und einen Mathematiker von Da Vinci, eine Frau namens Bao. Ann sah, daß er aufgeregt war, sie ihnen vorzustellen. Er vertraute ihr an: »Es ist ein Experiment.« Er war ebenso erregt wie die Kinder.