»Und?« fragte Ann.
Sax zeigte auf das Volk im Lagerhaus. »Das sind alles Grüne.« Die anderen debattierten weiter. Sax beobachtete Ann wie einen exotischen Vogel.
Ann stand auf, verließ die Versammlung und ging in die seltsam ruhigen Straßen von Ost-Pavonis hinaus. Da und dort hatten Banden der Miliz Posten an Straßenkreuzungen bezogen, die ihren Blick nach Süden richteten, nach Sheffield und dem Kabelterminal. Glückliche, hoffnungsvolle, ernsthafte junge Eingeborene. An einer Ecke war eine Gruppe in lebhafter Diskussion; und als Ann vorbeikam, schrie eine junge Frau mit verzerrtem Gesicht: »Ihr könnt doch nicht einfach tun, was ihr wollt!«
Ann ging weiter. Währenddessen fühlte sie sich immer mehr und mehr unbehaglich, ohne zu wissen, weshalb. So ist es, wenn Leute sich in kleinen Quantensprüngen verändern, wenn sie ohne Absicht oder Plan von äußeren Ereignissen getroffen werden. Jemand sagt: »Blick im Auge der Menschen«, und zu dieser Phrase gesellt sich plötzlich ein Bild: Ein Gesicht, das vor leidenschaftlicher Überzeugung erglüht und eine andere Phrase: »Ihr könnt doch nicht einfach tun, was Ihr wollt!« Und so hatte sie den Eindruck beim Blick auf das Gesicht dieser jungen Frau, daß es nicht bloß das Geschick des Kabels wäre, über das sie entschieden, nicht bloß: »Sollte das Kabel heruntergeholt werden?«, sondern: »Wie treffen wir Entscheidungen?« Das war die kritische nachrevolutionäre Frage, wichtiger als jedes andere diskutierte Thema, wichtiger selbst als die Frage des Kabels. Bis jetzt hatten die meisten Leute im Untergrund nach der Maxime gehandelt: »Wenn wir mit dir nicht übereinstimmen, werden wir gegen dich kämpfen.« Diese Haltung war es, die Menschen in den Untergrund getrieben hatte, auch Ann. Und wenn man sich an diese Methode gewöhnt hatte, war es schwer, von ihr loszukommen. Schließlich hatten sie ja gerade bewiesen, daß sie funktionierte. Und so bestand die Neigung, sie weiter anzuwenden. Das empfand sie selbst so.
Aber politische Macht... nimmt man einmal an, sie erwächst aus dem Blick im Auge des Menschen. Man könnte für immer kämpfen; aber wenn die Leute nicht hinter einem standen...
Ann dachte weiter darüber nach, als sie nach Sheffield hinunterfuhr. Sie hatte beschlossen, die Farce der Strategiesitzung am Nachmittag in Ost-Pavonis zu schwänzen. Sie wollte einen Blick in das Zentrum der Aktion werfen.
Es war seltsam, wie wenig sich im alltäglichen Leben von Sheffield geändert zu haben schien. Die Leute gingen immer noch zur Arbeit, aßen in Restaurants, plauderten auf dem Rasen in den Parks und versammelten sich auf den öffentlichen Plätzen dieser am dichtesten bevölkerten Kuppelstadt. Die Läden und Restaurants waren gedrängt voll. Die meisten Geschäfte in Sheffield hatten den Metanationalen gehört; und jetzt lasen die Leute auf ihren Bildschirmen lange Ausführungen darüber, was zu tun wäre, wie die neue Beziehung der Beschäftigten zu ihren alten Besitzern sein sollte, wo sie ihre Rohstoffe kaufen sollten, wo sie verkaufen sollten, wessen Vorschriften sie folgen und wem sie Steuern bezahlen sollten. Alles sehr verwirrend, wie die Diskussionen auf den Schirmen und die allabendlichen Nachrichtensendungen und die Handynetze zeigten.
Der Platz, auf dem der Lebensmittelmarkt stattfand, sah so aus wie immer. Die meisten Nahrungsmittel wurden von Kollektiven erzeugt und verteilt; es gab entsprechende Netze; die Treibhäuser auf Pavonis produzierten noch. Und so verlief auf dem Markt alles wie üblich. Bezahlt wurde mit UNTA-Dollars oder mit Kredit. Nur ein paarmal sah Ann Verkäufer mit ihren Schürzen, die mit roten Gesichtern Kunden anschrien, welche zurückschrien, und die sich über irgendeinen Punkt der Regierungspolitik stritten. Als Ann an einem solchen Streit vorbeiging, bei dem es nicht anders zuging als unter den Anführern in Ost-Pavonis, hielten die Diskutierenden plötzlich inne und starrten sie an. Man hatte sie erkannt. Der Gemüsehändler sagte laut: »Wenn ihr Roten endlich Ruhe geben würdet, würden sie einfach weggehen!«
»Ach komm!« erwiderte ein anderer. »Es liegt ja nicht an ihr.«
Sehr wahr, dachte Ann, als sie weiterging.
Eine Menschenmenge stand da und wartete auf die Straßenbahn. Die Transportsysteme waren noch in Betrieb; bereit für die Autonomie. Die Kuppel als solche funktionierte, was keineswegs selbstverständlich war, obwohl offenbar die meisten Leute das annahmen. Aber die Betreiber jeder Kuppel sahen ihre Aufgabe klar vor Augen. Sie gewannen ihre Rohstoffe selbst, hauptsächlich aus der Luft. Ihre Sonnenkollektoren und Kernreaktoren lieferten alle Energie, die sie brauchten. Somit waren die Kuppeln physisch schwach, konnten aber, wenn man sie in Ruhe ließ, durchaus politisch autonom sein. Es gab keinen Grund, sie besitzen zu wollen. Das zum Leben notwendige war vorhanden. Der Alltag nahm seinen Lauf, nicht sonderlich beunruhigt durch die Revolution.
So schien es auf den ersten Blick. Aber auch in den Straßen gab es bewaffnete Gruppen, junge Eingeborene zu dritt, viert oder fünft, die an Straßenecken standen. Revolutionäre Milizen bei ihren Granatwerfern und Fernspürgeräten. Ob es Grüne oder Rote waren, spielte keine Rolle — allerdings waren es zumeist Grüne. Die Leute bemerkten sie im Vorbeigehen oder blieben stehen, um mit ihnen zu reden und herauszufinden, was sie taten. Die Muffe im Auge behalten, sagten die bewaffneten Eingeborenen. Aber Ann sah, daß sie auch als Polizei fungierten. Sie waren ein akzeptierter und unterstützter Teil der Szene. Die Leute grinsten beim Plaudern. Dies war ihre Polizei, sie waren Kameraden vom Mars und hier, um sie zu schützen und Sheffield für sie zu bewachen. Die Leute wollten sie hier haben. Das war klar. Wenn sie sie nicht gewollt hätten, wäre jeder nahende Fragesteller eine Bedrohung und jeder unfreundliche Blick eine Attacke gewesen, was die Milizen letztlich von den Straßenecken an einen sichereren Ort gezwungen hätte. Die Gesichter der Leute bezeugten Eintracht. Das war der Lauf der Welt.
So grübelte Ann während der nächsten Tage. Und das noch mehr, nachdem sie mit einem Zug am Rand desKraters entlang, entgegen dem Uhrzeigersinn, in die entgegengesetzte Richtung von Sheffield, zum nördlichen Bogen des Kraterrandes gefahren war. Dort hatten Kasei und Dao Apartments in dem kleinen Kuppelbau von Lastflow in Besitz genommen. Offenbar hatten sie gewaltsam einige dort wohnende nicht zur Kampftruppe gehörende Bewohner vertrieben, die natürlich wütend mit dem Zug nach Sheffield geeilt waren, und verlangten, wieder in ihre Heime gelassen zu werden. Außerdem meldeten sie Peter und den anderen Grünen Anführern, daß die Roten am Nordrand Raketenwerfer auf Lastwagen montiert hätten, die auf den Aufzug und Sheffield allgemein zielten.
So begab Ann sich in schlechter Stimmung zu dem kleinen Bahnhof von Lastflow. Sie ärgerte sich über die Arroganz der Kakaze, die auf ihre Art ebenso stur waren wie die Grünen. Sie hatten bei dem Gefecht von Burroughs richtig gehandelt, als sie den Deich eingenommen hatten, um alle zu warnen, wonach sie ihn dann selbst zerstört hatten, nachdem sich alle anderen revolutionären Parteien auf den Höhen des Südens versammelt hatten, bereit, die Zivilbevölkerung der Stadt zu retten, während die Sicherheitskräfte der Metanationalen zum Rückzug gezwungen worden waren. Die Kakaze hatten gesehen, worauf es ankam, und es auch getan, ohne in einer Debatte darüber stecken zu bleiben. Ohne deren Entschlossenheit wären alle immer noch bei Burroughs versammelt, und die Metanats würden zweifellos gerade eine terranische Expeditonsstreitmacht organisieren, die Situation zu entschärfen. Es war ein perfekt ausgeführter Coup gewesen.