Und an den alten Seebären Piet Hansen, der Jacob und seinen Freunden während der langen, beschwerlichen Reise mehr als einmal beigestanden und ihnen sogar die englische Sprache beigebracht hatte. Er war ihnen mit der Zeit ein echter Freund geworden. Am Ende der Reise hatte er das Kommando über die ALBANY übernommen.
Wenn es tatsächlich diese ALBANY war, die im Hafen von Fogerty lag, durfte die Passage für Jacob und Irene kein Problem sein.
So dachte Jacob Adler.
Hätte er allerdings gewußt, was ihn erwartete, wäre er schnurstracks zum Mietstall zurückgekehrt und hätte von dem freundlichen Mr. Svenson Pferde und Wagen zurückverlangt.
*
Jefferson Kinley blickte den beiden Männern, die in den großen Empfangsraum traten, neugierig entgegen. Sofort witterte der erfahrene Hotelier ein Geschäft.
Nicht bei dem Graubart, der schon von weitem nach Tang und Salzwasser roch. Er kam mit ziemlicher Sicherheit von einem der Schiffe im Hafen, hatte dort Kajüte und Koje und wollte sich daher bestimmt nicht im Fogerty Grand Hotel einquartieren.
Aber der Mann in seiner Begleitung konnte ein lohnender Gast sein, falls er auf Zimmersuche war. Daß er in die übertrieben feinen Kleider nicht recht paßte, sah der Hotelier sofort. Es störte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Gerade die Neureichen, die Emporkömmlinge des Geldadels, Kinder der kalifornischen Goldfelder oder Gewinnler des Bürgerkriegs, ließen häufig besonders viel springen, um ihren Reichtum zu unterstreichen.
In der Hoffnung auf ein gutes Geschäft straffte Jefferson Kinley seinen krummen Rücken nach Möglichkeit und setzte das strahlendste Lächeln auf, zu dem er fähig war.
»Womit kann ich den Gentlemen dienen?«
»Mit einer Auskunft«, erwiderte Arnold Schelp schroff.
»Möchten Sie die Zimmerpreise wissen?«
»Nein, nur den Weg zu Zimmer Nummer 214. Wir werden dort erwartet.«
Die eben noch hochgezogenen Mundwinkel des Hoteliers fielen herunter. Aus dem Lächeln wurde unverhohlene Enttäuschung.
»Die Treppe rauf und im zweiten Stock einfach nach links, dann können Sie's nicht verfehlen«, beschied er ohne jeden weiteren Elan.
»Danke«, nickte Schelp knapp und ging mit dem Kapitän die Treppe hinauf.
Hansen fragte während des Aufstiegs:
»Ob V. Smith wohl die geheimnisvolle Dame ist oder ein Mann?«
»Ich hoffe, auch in Ihrem Interesse, daß Sie das wirklich nicht wissen, Käpten!«
Schelp sagte das im scharfen Ton und klopfte mit der Rechten gegen seine Seite, an die Stelle, wo der Derringer steckte. Den unvermeidlichen Stock hielt er in der Linken.
Hansen preßte die Lippen zusammen und zog die Stirn in Falten. Zum tausendstenmal fragte er sich, auf was er sich da eingelassen hatte.
Aber es war zu spät, um aus der Sache auszusteigen.
Seit die ALBANY mit ihrer ganz speziellen Fracht den Hamburger Hafen verlassen hatte, war er Arnold Schelp auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Vielleicht schon seit mehr als zwanzig Jahren. Seit jenem verhängnisvollen Orkan, der die HENRIETTA auf dem Ärmelkanal überfiel.
Schelp blieb vor der schweren Eichenholztür stehen, an der die vergoldeten Lettern >214< prangten, und schob Hansen vor.
»Sie klopfen an, Käpten!«
Es klang nicht nur wie ein Befehl - es war einer!
Hansen atmete tief durch und ließ seine Faust zweimal gegen die Tür schlagen.
Nach wenigen Sekunden fragte eine Männerstimme:
»Ja?«
Schelp nickte dem Kapitän aufmunternd zu.
»Meine Name ist Hansen«, sagte dieser. »Ich möchte V. Smith sprechen.«
»Wer sind Sie?«
»Der Kapitän der ALBANY.«
Kurzes Schweigen.
Dann erscholl wieder die fremde Stimme, die das Englische mit breitem Akzent sprach:
»Wir erwarten jemand anderen.«
Hansen sah Schelp an, und der nickte wieder.
»Mr. Schelp ist bei mir«, verkündete der Kapitän.
Ganz leise drangen Stimmen auf den Gang. Hinter der Eichentür unterhielten sich mehrere Menschen.
Die Stimmen wurden von schweren Schritten abgelöst. Ein Schlüssel drehte sich mit lautem Klacken im Schloß. Die Tür wurde aufgezogen, nur einen Spaltbreit. Ein Auge spähte durch die schmale Öffnung.
Und noch etwas lugte hindurch: der lange Lauf eines Revolvers, der direkt auf Hansens Bauch gerichtet war.
Der Kapitän fühlte sich immer unwohler, als er an den großen Revolver vor sich und den kleinen Derringer in seinem Rücken dachte.
Auf die kurze Entfernung war Schelps Taschenwaffe genauso tödlich wie die große Faustfeuerwaffe des Unbekannten hinter der Tür.
»Scheint in Ordnung zu sein«, sagte der Mann hinter der Tür laut.
Die Mitteilung war für den oder die anderen Menschen im Hotelzimmer bestimmt.
Die Tür wurde ganz aufgezogen.
Der Mann, dem Hansen gegenüberstand, war groß und wuchtig.
Auf den ersten Blick wirkte er auf den Kapitän wie ein alter Soldat, obwohl er Zivil trug: schwarze Hosen und einen hellen Rock, unter dem an der rechten Hüfte ein schwarzledernes Holster hervorlugte.
Diese verschließbare Revolvertasche nach militärischem Zuschnitt bestärkte Hansens Eindruck, es mit einem Soldaten zu tun zu haben. Ebenso die kerzengerade Haltung des Mannes, der entschlossene Ausdruck in dem von einem großen Schnurrbart mit nach oben gezwirbelten Enden verzierten Gesicht und die lässige Art, wie er den schweren Leach & Rigdon-Revolver hielt. Der Leach & Rigdon war unter den Südstaatlern verbreitet.
»Kommen Sie rein, beide!«
Der scharfe Ton machte aus der Einladung einen Befehl. Und auch der Revolver, der noch in der Faust des Mannes lag.
Der Bewaffnete verschloß die Tür wieder hinter den beiden Besuchern.
Diese stellten verwirrt fest, daß sie sich mit dem anderen allein in dem großen, luxuriös ausgestatteten Salon befanden. Mit wem hatte er eben gesprochen?
Die Antwort erschien in Gestalt zweier weiterer Personen, die hinter einem Vorhang hervortraten. Er verbarg den Durchgang zu einem großen Schlafzimmer. Ein Mann und eine Frau hatten sich dort versteckt gehalten.
Der zweite Mann war kleiner als der erste, was aber nicht so auffiel, da er bedeutend schmaler war, fast drahtig. Sofort erkannte man den Südländer. Die Haut war olivfarben, das Haupthaar sowie der gepflegte Oberlippen- und Kinnbart tiefschwarz.
Er trug keine sichtbare Waffe, aber die rechte Außentasche seines blauen Samtrocks war verdächtig stark ausgebeult. Und die rechte Hand schwebte immer in Höhe dieser Tasche.
Über die Frau ließ sich so gut wie gar nichts sagen. Es war die Dame in Schwarz, die den Jungen zur ALBANY geschickt hatte. Ihr langes Kleid war so schwarz wie der Hut mit dem undurchdringlichen Schleier, wie ihre Stiefeletten und ihre Handschuhe. Man sah nicht ein Stück Haut. Nur etwas Haar, einige Locken, die unter dem Hut hervorquollen. Sie waren so rot wie Schelps Haare.
»Er ist es«, stellte die Frau fest, nachdem sie den Deutschen in der Stutzerkleidung eingehend gemustert hatte. »Er entspricht haargenau der Beschreibung, die ich von Arnold Schelp habe.«
Jetzt erst steckte der Mann mit dem Schnurrbart die langläufige Waffe zurück ins Holster und sagte:
»Verzeihen Sie die Vorsicht, aber wir dürfen nichts riskieren. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Captain Abel McCord von der Armee der Konföderierten Staaten von Amerika.«
In seinen Worten schwang Stolz mit. Stolz auf seinen Rang und noch mehr auf die Armee, in der er diente.
Der Südländer wollte nicht zurückstehen. Er trat einen Schritt vor, verneigte sich leicht und sagte mit spanischem Akzent:
»Ich bin Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza, Sonderbevollmächtigter der mexikanischen Exilregierung.«
»Ich wußte gar nicht, daß Benito Juarez sich bereits im Exil befindet«, erwiderte Schelp.
Der Mexikaner musterte ihn genau, konnte aber nicht herausfinden, ob die Bemerkung des Deutschen ernst gemeint war.