»Ich verspotte Sie keineswegs«, lächelte Jacob, erleichtert darüber, daß er endlich die Beweggründe der Iren verstand. »Ich habe mit dem Kapitän des Schiffes gesprochen. Er ist ein alter Bekannter und hat uns einen Kajütenplatz auf der ALBANY zugesichert.«
»Und?« fragte die Witwe O'Faolain scharf. »Glück für Sie, Mr. Adler. Was hat das mit uns zu tun?«
»Eine Kajüte ist für Miß Sommer und mich allein viel zu groß. Ich wollte Sie deshalb fragen, ob Sie die Kajüte während der Fahrt nach San Francisco mit uns teilen möchten.«
Katie O'Faolain starrte den Deutschen für eine halbe Minute an, als sei er eins der sieben Weltwunder. Dann stürzte sie auf ihn zu, schlang ihre Arme um ihn und überschüttete ihn mit einer Kanonade saftiger, schmatzender Küsse.
»Mr. Adler«, keuchte sie, als sie endlich von ihm abließ. »Sie sind der beste, freundlichste, höflichste Deutsche in den ganzen Vereinigten Staaten. Ich könnte Sie auf der Stelle heiraten!«
»Hm, vielen Dank«, brummte Jacob. »Aber ich schätze, dazu ist keine Zeit. Die ALBANY wird nicht auf uns warten.«
Dann verabschiedete er sich schnell auf später an Bord, bevor der Witwe O'Faolain einfallen konnte, daß auch Schiffskapitäne Trauungen vornehmen konnten.
*
Die Witwe O'Faolain und ihre Familie kamen ebenso pünktlich an Bord wie Jacob, Irene und Jamie.
Auch die Glücklichen, die das Losverfahren zu Zwischendeckpassagieren bestimmt hatte, drängten sich, mit ihrer Habe bepackt, rechtzeitig über die Planken auf den Dreimaster. Die Goldfelder Kaliforniens lockten und vertrieben jeden Müßiggang.
Jeder, der an Bord kam, mußte seinen Namen nennen. Der Zweite Steuermann, ein gedrungener Deutsch-Amerikaner namens Joe Weisman, strich den betreffenden Namen auf seiner Liste durch. Dann erst gaben ein paar kräftige, mit Knüppeln bewaffnete Seeleute den Weg zu den Decksaufbauten frei, wo die Treppe zum Zwischendeck hinunterführte.
Vor dem Anlegeplatz der ALBANY hatte Captain Stout seine kleine Garnison mit aufgepflanzten Bajonetten einen Halbkreis bilden lassen, um das auslaufende Schiff im Notfall gegen die zu verteidigen, die zurückbleiben mußten.
Aber kaum einer von ihnen ließ sich im Hafen blicken. Vielleicht wollten sie sich den Schmerz ersparen, dem Schiff nachzublicken, das Kurs auf das heiß ersehnte Kalifornien nahm.
Jacob hatte das Gepäck in der Kajüte, die er und Irene sich mit den Iren teilten, verstaut und ging auf Deck, weil er Piet Hansen noch gar nicht gesehen hatte. Irene blieb mit ihrem quengelnden Sohn unten.
Unterwegs stellte Jacob zu seiner Verwunderung fest, daß die Nebenkajüte offenbar nicht belegt war. Das verwunderte ihn, versprach jeder freie Platz an Bord doch ein gutes Entgelt. Seit dem großen Goldrausch von 1849 waren Schiffspassagen nach San Francisco nicht mehr so begehrt gewesen. Auf Deck fragte er den nächstbesten Seemann nach dem Grund.
»Es kommen noch Passagiere, Sir«, lautete die undeutliche, von einem ordentlichen Priem behinderte Antwort. »Glaube, da sind sie.«
Er zeigte mit schmutzigen Fingern an Land, wo gerade eine geschlossene Kutsche nach kurzer Kontrolle den Schutzwall der Blauuniformierten passierte.
Vor einer der Planken hielt die Kutsche an, und der Fahrer lud das Gepäck vom Dach, um es an Bord zu bringen. Für drei Menschen waren es nicht sonderlich viele Sachen.
Mit Interesse beobachtete Jacob die neuen Kajütenpassagiere.
Zwei waren Männer, einer davon mit deutlich südlichem Einschlag. Beide waren gut gekleidet, wenn auch längst nicht so auffällig wie Arnold Schelp.
Am meisten interessierte sich Jacob aber für die Frau, die in Trauer zu sein schien. Nichts, aber auch gar nichts war von ihr zu sehen außer schwarzem Stoff. Sogar ihr Gesicht lag hinter einem dunklen Schleier, und ein schwarzes Netz bedeckte das Haar.
»Wer ist das?« fragte Jacob den kräftig kauenden Seemann.
»Nicht die Spur von Ahnung, Sir. Habe nur läuten hör'n, daß es Bekannte von Mr. Schelp sein soll'n.«
»Die Frau auch?«
Der Seemann zuckte mit den Schultern und spuckte einen Teil des Priems über die Reling hinunter ins brackige Hafenwasser.
»Weiß nicht, Sir. Wird wohl so sein.«
Obwohl die Frau vollkommen verhüllt war, erschien sie Jacob wie eine alte Bekannte.
Und - täuschte er sich, oder blieb sie tatsächlich kurz stehen, um ihm einen Blick zuzuwerfen. Er konnte sich nicht helfen, ein eisiger Schauer lief dabei seinen Rücken hinunter.
»Aye, Sir, ist'n kalter Wind«, nickte der Seemann, der das Erschauern des Deutschen falsch deutete. »Haben zu lange hier gelegen. Das gute Wetter ist vorbei. Machen Sie sich aufn gehörigen Seegang gefaßt!«
Jacob hörte eine vertraute Stimme von achtern und sah sich um. Piet Hansen stand auf der Brücke und gab durch ein hartledernes Sprachrohr die Befehle, um die Bark zum Auslaufen vorzubereiten. Jacob wollte ihn jetzt nicht stören und seine Aufmerksamkeit wieder den neuen Kajütenpassagieren zuwenden.
Doch sie waren bereits unter Deck verschwunden. Der Kutscher verließ die ALBANY. Die Planke, über die er gegangen war, wurde eingezogen.
Der Gedanke an die schwarzgekleidete Frau und ihre Begleiter verblaßte. Das Auslaufmanöver nahm Jacobs Aufmerksamkeit gefangen.
Die Ankerkette wurde ins Vorschiff gezogen. Ein plumpes Dampfboot setzte sich vor die Bark und wurde mit zwei starken Seilen an ihrem Bug vertäut.
Schon einmal hatte er miterlebt, wie die ALBANY von einer Dampfbarkasse in tieferes Gewässer gezogen wurde, damals in Hamburg. Doch da hatte er nichts gesehen, weil er als blinder Passagier unter einem Rettungsboot verborgen lag.
Jetzt wanderte sein Blick zwischen dem kleinen, aber starken Schraubendampfer und der zusammenschrumpfenden Hafenstadt hin und her.
Es war seltsam, aber er fühlte wenig Erleichterung, endlich unterwegs nach Kalifornien zu sein. Eine Ungewisse Vorahnung ließ ihm die Zukunft so düster erscheinen wie der dicke Rauch, der aus den beiden niedrigen Schornsteinen des Dampfers in den bewölkten Himmel aufstieg. Die ALBANY glitt direkt in den fast schwarzen Dunst hinein.
*
Im Hauptquartier der Garnison von Fogerty, am Abend dieses Tages.
Das unerwartete Klopfen an der Tür ließ Captain Henry Stout zusammenfahren. So sehr, daß Flüssigkeit aus dem fleckigen Glas schwappte und seinen blauen Uniformrock benetzte.
Wieso bloß?
Nur weil er sich einen kleinen Schluck genehmigte?
Er kam sich immer wie ein Verbrecher vor, wenn er die Schublade aufzog, die Whiskeyflasche herausnahm und sich einen Doppelten eingoß. Die einzige Freude seiner öden Tage hier am Ende der Welt.
»Ja?« brüllte der kleine, untersetzte Garnisonskommandant. »Was gibt's?«
»Ein Mr. Herbert will Sie sprechen, Captain.«
Es war die durchdringende Kommandostimme von First Sergeant Henderson.
»Kenne ich nicht«, antwortete der Captain durch die geschlossene Tür. »Was will er zu so später Stunde?«
»Weiß ich auch nicht genau, Sir. Hat wohl was mit dem Schiff zu tun, das heute nach Frisco ausgelaufen ist.«
»Die ALBANY?«
»Yes, Sir.«
»Und?«
»Mr. Herbert meint, vielleicht seien Spione an Bord gewesen.«
»Spione?«
Das ließ Captain Stout aufhorchen.
Er kippte den Rest Whiskey in sich hinein, stellte Flasche und Glas zurück in die tiefe Lade, setzte sich gerade hin und knöpfte eilig den blauen Rock zu.
»Right, Sergeant, schicken Sie den Mann herein!«
In Begleitung eines grobschlächtigen Mannes erschien ein Junge, genauso blond wie der Erwachsene. Sie waren unverkennbar Vater und Sohn.
Der Fleischer John Herbert erzählte von den beiden Golddollars, die Mrs. Herbert in der Jackentasche ihres Sprößlings gefunden hatte. Erst hatte dieser sich verstockt gezeigt, als der Vater ihn um Rechenschaft über seinen unerwarteten Reichtum ersuchte. Aber ein paar saftige Ohrfeigen der kräftigen Fleischerhand hatten Frankie Herberts Zunge gelöst. Jetzt mußte er seinen Bericht dem Captain gegenüber wiederholen.