Stout hörte mit wachsendem Interesse zu. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich fast. Noch während der Junge seinen umständlichen Bericht ablieferte, versuchte der Offizier, die Sache richtig einzuschätzen.
Natürlich konnte alles ganz harmlos sein. Vielleicht war es tatsächlich nur eine Liebesbotschaft.
Aber vielleicht hatte auch John Herbert recht, der etwas von Spionen der gottverdammten Südstaaten-Rebellen faselte.
Yeah, dachte Stout, vielleicht waren es Spione. Oder etwas in der Art.
Ein Wort geisterte durch seinen Kopf: Blockadebrecher!
Wenn es so war, würde es dann nicht negativ auf ihn zurückfallen, daß er die ALBANY aus dem Hafen hatte entkommen lassen?
Er hatte das Schiff sogar noch durch seine Männer bewacht! Würde es nicht besser sein, nichts weiter zu unternehmen?
Aber gerade das war es wohl, was ihm den ungeliebten und unbedeutenden Posten weitab der Kampflinien eingetragen hatte. Immer hatte der Offizier Henry Stout zu lange gezögert. Andere hatten Entscheidungen getroffen und lobende Erwähnungen in den Personalakten gesammelt. Seine Altersgenossen aus West Point hatten viel höhere Ränge inne als er und befehligten große Truppenteile. Sie sammelten Ruhm und Ehre im Krieg. Und er, Henry Stout, saß hier in Fogerty und bewachte einen Hafen, für den sich niemand interessierte als ein paar goldsüchtige Glücksritter!
Er sah seine Chance. Wenn die ALBANY tatsächlich ein Blockadebrecher war und er zu ihrem Aufbringen beitragen konnte, würde er vielleicht nicht mehr lange hier sitzen und aus lauter Frust den Whiskey in sich hineinschütten.
Er sprang auf, und seine Schultern strafften sich.
»Sergeant«, bellte er den reglos im Raum stehenden Henderson an. »Sofort Eiltelegramme ans Hauptquartier in San Francisco und an das dortige Navy-Büro. Die ALBANY ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Blockadebrecher und unter allen Umständen aufzubringen!«
*
Auf dem Pazifik, ein paar Stunden später. »Müssen wir wirklich wie Diebe in der Nacht hier herumschleichen?« fragte Captain Abel McCord unwillig seine Begleiterin.
Er sprach im Flüsterton.
In der Hand hielt er eine Blendlaterne aus rostigem Blech, deren matte Vergrößerungslinse einen hellen Schein auf die im heftigen Seegang schwankenden Planken warf.
»Es ist besser so«, beschied die Frau, die wie stets von Kopf bis Fuß schwarz verhüllt war.
»Aber warum? Schließlich ist es unsere Ladung. Hm, jedenfalls dann, wenn wir sie bezahlt haben. Wir haben ein Recht darauf, sie in Augenschein zu nehmen. Warum kontrollieren wir sie nicht ganz offen?«
»Weil ich nicht das sehen will, was dieser Stutzer Schelp uns zeigt. Ich will mir selbst aussuchen, wo wir unsere Stichproben machen.«
»Yeah«, sagte McCord im zerdehnten Texas-Akzent. »Jetzt verstehe ich.«
Die beiden Menschen blieben vor einer Luke stehen, die das Zwischendeck von dem großen Frachtraum trennte, der den unteren Schiffsteil bildete und fast gänzlich unterhalb der Wasserlinie lag.
McCord rüttelte an der Luke, aber sie war verschlossen.
»Soll ich sie aufbrechen?« fragte er und legte die Rechte auf das Stemmeisen, das in seinem Gürtel steckte.
»Versuchen wir es erst mal hiermit.«
Die Frau zog einen Ring mit mehreren Schlüsseln zwischen den Falten ihres Kleides hervor. Schon der zweite paßte, und klackend sprang das große Schloß auf.
»Woher?« staunte der Captain.
»Von einem Maat, der fünf Golddollars unwiderstehlich fand.«
Sie gingen die steile Treppe hinunter. Nur wenig Wasser stand in den Ecken und Bodenausbuchtungen. Die Pumpen der ALBANY arbeiteten gut.
Die Frau übernahm die Blendlaterne und zeigte auf mehrere Kisten, die dann McCord mit dem schweren Eisen aufbrach. Jedesmal fiel die Inaugenscheinnahme des Inhalt zur vollen Zufriedenheit der beiden auf.
Keiner der beiden bemerkte, daß dabei ein kleines ovales Messingschild von einer Kiste abplatzte und zu Boden fiel. Die anderen Kisten waren nicht mit diesen Schildern versehen. Man hatte die Schilder entfernt, bevor die Kisten in Hamburg auf die ALBANY verladen worden waren. Helle Flecken auf dem Holz verrieten die Stellen, wo sie gesessen hatten.
Fast zärtlich strich die in schwarzem Leder steckende Hand der Frau über den kalten Stahl in einer der großen Kisten, als die Schwarzgekleidete plötzlich hart gegen das Holz gedrückt wurde.
Sie spürte McCords kräftige Hände an ihrem Leib abwärts wandern und ihre Röcke hochheben. Schnell schob die Frau in Schwarz die Blechblende über die Linse der Laterne, und im Laderaum wurde es finster.
Die Welt bestand nur noch aus Geräuschen. Das Klatschen der Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen. Das Ächzen und Knarren der Planken und der Kisten, die zwar gut vertäut waren, aber doch jede Bewegung der Bark nachvollzogen. Und das immer schnellere Keuchen des Südstaatlers, der sich über die Frau beugte und ihren Leib mit solcher Gewalt gegen die Kiste drückte, daß deren Rand schmerzhaft in ihren Bauch stach.
Sie biß die Zähne zusammen und ließ es geschehen. Wenn sie keine Umstände machte, würde es um so schneller vorbei sein.
Was waren schon die paar Minuten in der Nacht, die sie sich Abel McCord hingab? Der Captain setzte sein Leben bei dieser Mission aufs Spiel.
Sie ihres natürlich auch. Aber es bedeutete ihr nichts mehr, seitdem sie vom Schicksal ihres Mannes erfahren hatte.
Endlich war der Südstaatler fertig. Er stand noch eine Minute über die Frau gebeugt, bis er neue Kraft gefunden hatte. Dann ließ er von ihr ab und zog seine Hose hoch.
Er griff nach der Laterne, die sie noch in der Hand hielt. Wie er den Lichtstrahl aufflammen ließ, hatte sie ihre Röcke bereits wieder geordnet. Kein Zoll ihrer Haut war mehr zu sehen, als das Licht auf sie fiel.
Sie zuckte zurück, als McCord die freie Hand nach ihrem Gesichtsschleier ausstreckte.
»Was soll das, Abel?« fragte sie erschrocken.
Sein breites Gesicht drückte wilde Entschlossenheit aus. Sie hatte sich getäuscht. Seine Erregung war noch nicht abgeklungen, sondern hatte sich nur auf eine andere Ebene verlagert.
»Ich will endlich dein Gesicht sehen!« keuchte er mit der Stimme und den Augen eines Besessenen. »Ich halte es so nicht länger aus. Zeig es mir!«
Er wollte den Schleier wegreißen, aber die linke Hand der Frau schlug seinen Arm beiseite. Ihre Rechte verschwand in den Falten des schwarzen Kleides und kehrte mit einem vierläufigen Sharps Derringer zurück, den sie auf McCords Brust richtete.
Ohne zu zögern zog sie den Hahn zurück und sagte scharf:
»Wenn Sie mich auch nur anrühren, McCord, schicke ich Sie zur Hölle!«
Ihre Stimme und ihre ganze Haltung ließen den Captain keine Sekunde an der Ernsthaftigkeit der Drohung zweifeln.
»All right, Sie haben gewonnen«, brummte er und bückte sich nach dem Stemmeisen, das er auf den Boden gelegt hatte, bevor er sich der Frau genähert hatte.
Äußerlich war Abel McCord völlig ruhig. Aber innerlich brodelte er.
Lange würde er die fortlaufende Kette von Demütigungen nicht mehr hinnehmen. Deutsche, Mexikaner und diese geheimnisvolle Frau, die das Oberkommando ihm vor die Nase gesetzt hatte - sie alle machten sich über ihn, einen Offizier der Konföderation, lustig!
Nicht mehr lange!
*
Die Tage auf See vergingen für die Passagiere der ALBANY in rasch ermüdender Eintönigkeit.
Das einzige, was sich änderte, war das Wetter. Es wurde von Tag zu Tag schlechter. Manchmal wurde der Himmel so düster, daß sich der Tag kaum von der Nacht unterschied.