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Aber als der Kapitän ihn herausziehen wollte, schrie der Auswanderer gequält auf.

»Geben Sie's auf, Käpten«, stöhnte der Alte unter Schmerzen. »Es hat keinen Sinn. Meine Beine sind hinüber.«

»Warum sind Sie bloß an Deck gekommen?« schrie der Kapitän gegen das Brausen des Sturmwinds. »Ich hatte es doch allen Passagieren ausdrücklich untersagt! Es ist viel zu gefährlich. Sie alle können über Bord gespült werden!«

»Ist es nicht gleichgültig. ob wir im Meer ersaufen. oder unter Deck. Käpten?«

Die Schmerzen peinigten den Alten derart, daß er nur noch abgehackte Satzfetzen hervorbrachte. Sein ganzer Körper krampfte sich beim Sprechen zusammen.

»Wenn Sie unter Deck bleiben, werden Sie nicht ersaufen«, erwiderte der Kapitän mit fester Stimme. Vielleicht wollte er dadurch auch seine eigenen Zweifel unterdrücken.

»Gerade dann. werden wir. sterben.«

Auf dem jugendlichen und gleichwohl von den vielen Jahren auf See gebräunten und wettergegerbten Gesicht des Kapitäns zeichnete sich Unverständnis ab.

Konnte man die Worte des Alten überhaupt ernstnehmen?

Wahrscheinlich nicht, entschied der Seemann. Die Todesangst, der Schock des Unglücks und der kaum zu ertragende Schmerz in seinen Beinen mußten seinen Geist verwirrt haben.

»Ich werde Hilfe holen«, versprach der Kapitän im beruhigenden Ton. »Dann heben wir die Rah an und befreien Sie.«

». hat keinen Sinn«, röchelte der Alte. »Das Schiff. wird sinken!« »Unsinn!« Die Stimme des Kapitäns klang fast barsch. »Sobald wir aus dem Sturm heraus sind, sieht alles anders aus.«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Nein. zuviel Wasser. im Schiff.«

Die Augen des Kapitäns zogen sich skeptisch zusammen. Wasser im Schiff? Das klang nicht nach Angstphantasien.

»Wovon reden Sie?« fragte der Seemann.

»Wasser. überall im Zwischendeck. bis zu den Knien.«

Bestürzung überfiel den Kapitän. Ihm dämmerte, daß der Alte keineswegs phantasierte. Zu genau war seine Beschreibung. Aber - Wasser im Zwischendeck?

Das bedeutete, daß der ganze Stauraum unterhalb des Zwischendecks, wo das Gepäck der Auswanderer und der Schiffsproviant aufbewahrt wurden, bereits überflutet war.

Wenn das Wasser bereits im Zwischendeck stand, war es weit über die normale Wasserlinie der Bark gedrungen!

Erst jetzt fiel dem Kapitän auf, daß die HENRIETTA schwerer im Wasser lag als noch vor ein paar Minuten. Das noch immer heftige Schwanken von einer Seite auf die andere lief weniger hektisch ab. Aber das war kein Grund zum Aufatmen, sondern für das genaue Gegenteil.

Es bestätigte die Worte des alten Auswanderers: Wasser drang in den Rumpf des Schiffes ein und machte es zunehmend schwerer - weil es tiefer und tiefer sank.

Jetzt verstand der Kapitän, weshalb immer mehr Menschen trotz seines strikten Verbots aus dem Zwischendeck hochkamen. Sie fürchteten den sicheren Tod, fanden auf Deck aber keineswegs die erhoffte Rettung.

Wenn das Schwanken der HENRIETTA sie nicht von den Beinen riß, besorgten es der Sturmwind und die schweren Brecher. Schreie wurden vom Wind davongetragen.

Trotz der Rettungsseile, die der Kapitän beim plötzlichen Auftreten des Orkans auf Deck hatte zurren lassen, wurden etliche der Menschen über Bord gespült.

Das Herz des Kapitäns krampfte sich zusammen. Er trug für Leib und Leben dieser Menschen die Verantwortung, solange sie sich an Bord der HENRIETTA aufhielten.

Hatte er versagt - auf seiner ersten Fahrt als Kapitän eines eigenen Schiffes?

Eine vertraute Gestalt stemmte sich aus dem Zwischendecksaufgang. Feuerrote Haare über einem flachen, fast stirnlosen Gesicht. Ein Gesicht, daß jetzt Verzweiflung und Erschöpfung ausdrückte. Das Gesicht des Maats Robert Schelp. Er befehligte die Männer an den Pumpen.

Der Kapitän sah ein, daß er dem eingeklemmten Auswanderer im Augenblick nicht helfen konnte. Und daß es Wichtigeres für ihn zu tun gab.

Er mußte nicht nur einen Menschen retten, sondern ein ganzes Schiff!

»Halten Sie aus!« rief er dem Alten zu, hangelte sich an dem abgestürzten Mast entlang zum Aufgang und fragte den durchnäßten Maat: »Schelp, was wollen Sie? Ihr Platz ist unten an den Pumpen! Die HENRIETTA säuft uns noch ab! Warum sorgen Sie nicht dafür, daß das Wasser aus dem Rumpf kommt?«

»Die Pumpen arbeiten nicht mehr!« schrie der Maat voller Verzweiflung. »Sie sind eine nach der anderen ausgefallen.«

Der Kapitän schluckte. Das war eine schlimme Nachricht, auch wenn er sich so etwas bereits gedacht hatte.

»Wie viele Pumpen arbeiten nicht mehr?« fragte er, als er sich von der bösen Überraschung erholt hatte.

»Alle, Käpten!«

»Alle?« Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann nicht sein!«

Und er dachte: Das darf nicht sein!

»Kommen Sie doch runter und sehen es sich an, Käpten. Die Dinger sind nur besserer Schrott, aber nicht viel besser!«

Genau das tat der Kapitän.

Er mußte zu seinem Erschrecken feststellen, daß Schelp recht hatte. Mit den Pumpen war nicht viel anzufangen.

Zwar bemühten sich die Seeleute verzweifelt, sie notdürftig zu reparieren. Bei einer gelang es auch, aber es dauerte keine drei Minuten, bis sie erneut ausfiel.

Das Wasser stieg, stand den Männern schon bis zur Brust. Und die Zeit drängte!

Überhaupt - die Zeit!

Wäre vor dem Auslaufen der HENRIETTA nicht alles so überstürzt gegangen, hätte der junge Kapitän Zeit gehabt, sich das Schiff - sein erstes Kommando - näher anzusehen. Dann hätte er bemerkt, daß die Pumpen nur äußerlich in Ordnung schienen.

»Wir müssen abhauen, Käpten!« riß ihn Schelps laute Stimme aus den Gedanken. »Das Wasser steht uns fast bis zu Hals. Warum hat die HENRIETTA nur keine Lenzpumpe auf Deck?«

Der Kapitän hob die knochigen Schultern und ließ sie ratlos wieder fallen.

»Ich habe die Bark nicht bauen lassen, leider«, seufzte er und befahl seinen Männern dann, nach oben zu gehen. »Seht zu, daß niemand auf dem Zwischendeck bleibt, wenn es überflutet wird. Ein paar der Auswanderer sind die See so wenig gewohnt, daß sie sicher zu schwach sind, um auf den eigenen Beinen zu stehen.«

»Soll das heißen, alles in die Boote?« fragte der rothaarige Maat entgeistert.

Der Kapitän nickte, schwach nur.

»Aber wir haben längst nicht genügend Rettungsboote für alle. Außerdem dürfte es bei diesem Seegang fast unmöglich sein, sie zu wassern.«

Der Kapitän blickte den Maat traurig an.

»Haben Sie einen besseren Vorschlag, Schelp?«

»Nein«, gab der Maat zerknirscht zu.

Im Zwischendeck bestätigte sich die Befürchtung des Kapitäns. Etliche Auswanderer, Männer wie Frauen und Alte wie Junge, weigerten sich in panischem Starrsinn, an Deck zu gehen.

Die hölzernen Schotte, die sie umgaben, gaukelten ihnen eine trügerische Sicherheit vor. Feste Wände versprachen Schutz. Wie die Wände der Wohnungen und Häuser in ihrer deutschen Heimat.

Aber die Schotte der HENRIETTA würden das Wasser nicht zurückhalten, wenn die Bark immer tiefer sank. Das wußte der Kapitän nur zu gut.

Und das Wasser, das bereits kniehoch im Zwischendeck stand, bestätigte es.

Mit Schreien und Handgreiflichkeiten trieb er die seiner Obhut überantworteten Menschen an, ihr Quartier, das schnell zur Todesfalle werden konnte, zu verlassen. Einige Auswanderer mußten er und seine Männer geradezu an Deck zerren.

Aber lohnte sich die Mühe?

Hier oben, wo der Sturm mit unverminderter Kraft toste, sah es nicht so aus.

Die verzweifelten Versuche, die Rettungsboote zu wassern, scheiterten kläglich. Taljen und Bootsrümpfe zerbrachen splitternd, was die Verwirrung und die Panik unter den Amerikafahrern noch steigerte.

Viele sprangen aus freien Stücken über Bord, bloß um beim Untergang der HENRIETTA nicht ein Opfer des Sogs zu werden. Es war das beste, was die Menschen angesichts des sicheren Schiffsuntergangs tun konnten.