Der Käpten rief den draußen wartenden Seemann herein, um den Jungen an Land zu begleiten.
Als Frankie Herbert die fremde Welt des Segelschiffes verließ, fühlte er sich erleichtert. Der Mann mit dem roten Haar hatte ihm Angst gemacht.
Aber dann glitt ein Lächeln über das Kindergesicht - Frankie dachte an die beiden Goldstücke in der Tasche seiner Kalikojacke.
In der Kapitänskajüte griff Arnold Schelp nach einem Messer des Silberbestecks und fetzte ungeduldig den unbeschrifteten weißen Umschlag auf, der lediglich mit einem Adreßaufdruck des Fogerty Grand Hotels versehen war. Der gleiche Aufdruck schmückte das Briefpapier, das nur wenige handgeschriebene Worte enthielt.
Schelp las laut vor:
»Erwarte Sie umgehend im Grand Hotel, Zimmer 214. V. Smith.«
»Nicht gerade ein ausführliches Schreiben«, seufzte der Kapitän. »Ist V. Smith der Verbindungsmann, auf den Sie warten?«
»Ich nehme es an«, antwortete der Rothaarige, während er den Brief zusammenfaltete und in eine Tasche seiner Weste steckte. »Mir wurde kein Name genannt. Ich weiß nur, daß ich in Fogerty neue Instruktionen erhalten soll. Wer sonst sollte also den Brief geschickt haben?«
»Vielleicht ein Agent des Nordens.«
Schelp starrte Hansen entgeistert an.
»Wie meinen Sie das, Käpten?«
»Ich meine, daß es eine Falle sein könnte. Vielleicht haben die Nordstaatler Ihren Verbindungsmann geschnappt und durch einen ihrer Agenten ersetzt.«
»Verflucht, das wäre eine Erklärung für die Verspätung!« Schelp ließ den schweren Silberknauf seines Stocks hart auf die Tischplatte knallen. »Aber wenn es so ist, warum dann das Treffen im Hotel? Die Yankees könnten das Schiff doch ganz einfach stürmen.«
»Vielleicht wollen sie noch mehr herausfinden und deshalb das Spiel so lange fortsetzen, wie es geht.«
Überlegend fuhr Schelps Linke durch seinen feuerroten Haarschopf.
Er schüttelte schließlich den Kopf und seufzte:
»Ich schätze, es gibt nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, Käpten. Wir müssen ins Hotel!«
»Wir?« fragte Hansen überrascht.
Schelp nickte grinsend und zog einen kleinen Gegenstand aus einer der Westentaschen: ein versilberter Derringer mit vergoldetem Griff, protzig, aber tödlich.
»Ich möchte Sie in meiner Nähe haben, Käpten. Vielleicht haben Sie mich ja verraten, dann möchte ich mich gebührend bei Ihnen bedanken.«
»Ich habe Sie nicht verraten«, sagte Hansen und dachte: Vielleicht hätte ich es tun sollen!
»Wir werden sehen.«
Schelp ließ den Derringer wieder verschwinden, stand auf und griff nach seinem Rock und dem Chapeau claque.
»Kommen Sie, Käpten, das Spiel hat begonnen!«
Kurz darauf verließen die beiden Männer das Schiff und erwiderten knapp den Gruß der beiden Soldaten.
»Der Käpten geht auch mit«, raunte der Corporal seinem Kameraden zu. »Anscheinend hat die Dame noch eine Freundin.«
»Yeah«, grinste der Gemeine. »Sehr geheim und persönlich.« »Es ist schon ein Witz, daß ausgerechnet Yankee-Soldaten die ALBANY bewachen«, raunte Piet Hansen seinem Begleiter zu.
»Ja«, grinste der Mann in der stutzerhaften Kleidung. »Als wüßten sie, wie wertvoll unsere Fracht ist.« Mit gemischten Gefühlen verließen die beiden Deutschen den Hafen und gingen in Richtung Stadt.
*
Die beiden kleinen Zimmer, die der Hotelier Jefferson Kinley den deutschen Auswanderern zuwies, lagen zu einer schmalen Seitengasse hinaus. Sie waren ziemlich dunkel und fast spartanisch eingerichtet, aber dafür sauber und umsonst. Irene blieb mit Jamie auf ihrem Zimmer, um sich auszuruhen.
Jacob fuhr mit dem Wagen zum nächsten Mietstall, um ihn und die Tiere zu verkaufen. Beides benötigten sie nicht mehr. Und sie im Mietstall unterzustellen, hätte nur unnötige Kosten verursacht.
Der Mietstallbesitzer, ein bulliger Mann mit spiegelglatter Glatze und dem Namen Svenson, bot fünfzig Dollar pro Pferd und noch einmal fünfzig für den Wagen. »Das ist aber nicht viel«, sagte Jacob enttäuscht. »Nein«, sagte der Glatzkopf offen. »Es ist sogar sehr wenig. Aber Sie können sich ruhig in Ruhe umhören. Mein Angebot bleibt bestehen. Niemand in Fogerty wird Ihnen mehr bieten.« »Warum nicht?«
»Weil Sie einen Tag zu spät gekommen sind. Die Auswanderer vom Schiff, die gestern ins Landesinnere aufgebrochen sind, hätten wohl mehr bezahlt. Aber die meisten Leute, die jetzt nach Fogerty kommen, suchen eine schnelle Schiffspassage zu den Goldfeldern, wie Sie. Das Angebot an Pferden und Wagen übersteigt die Nachfrage bei weitem. Die Zeltstadt da draußen wird Ihnen nicht entgangen sein.«
»Aber wenn wieder ein Schiff mit Auswanderern kommt«, wagte der Deutsche noch einen schwachen Versuch.
»Vielleicht kommt morgen eins«, erwiderte der Glatzkopf achselzuckend. »Vielleicht aber auch erst in einem Jahr oder später, was ich eher glaube. Wer aus der Alten Welt in die Neue auswandert, macht sich nicht gern die Mühe, nach der weiten Reise auch noch das Kap Horn zu umschiffen. Die meisten fahren nach New York. Und wer doch ums Kap Horn fährt, der geht lieber in Frisco an Land und bricht von dort zu den Goldfeldern auf. Daß diese Deutschen mit dem Schiff hierher gekommen sind, war schon ungewöhnlich genug. Sie müssen dem Kapitän oder dem Eigner einen stolzen Preis gezahlt haben, daß er eine so weite Strecke zurückgelegt hat.«
Jacob überlegte schwer und fragte zögernd: »Wenn das Angebot so groß und die Nachfrage so gering ist, weshalb wollen Sie mein Gespann überhaupt kaufen, Mr. Svenson?«
»Weil der Wagen ganz in Ordnung ist und die Pferde sogar sehr gut. Die werde ich schon los. Aber wenn sich die Sache für mich lohnen soll, kann ich Ihnen nicht mehr bieten, Mr. Adler. Ich muß die Pferde ja auch versorgen, bis ich sie verkaufen kann.«
»Das sehe ich ein«, nickte Jacob.
»Also gut, ich bin mit den zweihundertfünfzig Dollar einverstanden.«
Svenson holte das Geld und einen eilends aufgesetzten Kaufvertrag aus dem Haus, den der Deutsche unterschrieb. Dann erkundigte er sich nach der Möglichkeit einer Schiffspassage.
»Da brauchen Sie viel Geduld«, sagte Svenson und hielt den Kaufvertrag hoch. »Falls Sie es sich noch einmal überlegen und vielleicht lieber über Land nach Kalifornien wollen, bin ich gern bereit, das Papier zu zerreißen und unseren Geschäftsabschluß zu vergessen.«
»Ich habe eine Frau und ein kleines Kind dabei«, seufzte Jacob. »Hinter uns liegen bereits einige Strapazen. Ich glaube, mit dem Schiff geht es schneller und angenehmer.«
»Zweifellos - falls Sie ein Schiff finden. Wenn nicht, kommen Sie mit den zweihundertfünfzig Bucks zurück, und ich gebe Ihnen das Gespann wieder, abzüglich der Unterstell-und Futterkosten natürlich.«
»Das ist ein Wort«, sagte Jacob froh und bedankte sich bei dem freundlichen Mr. Svenson. »Haben Sie keinen Tip, wo ich wegen einer Schiffspassage nachfragen könnte, Sir?«
»Höchstens auf dem Schiff, das die Auswanderer gebracht hat. Es will ja weiter nach Frisco. Gehen Sie einfach zum Hafen und fragen Sie nach der ALBANY!«
ALBANY!
Der Name traf Jacob wie ein Schock. So hatte das Schiff geheißen, mit dem er, Irene und Martin Bauer nach Amerika gefahren waren.
Aber es mußte ein Zufall sein. Albany war eine bekannte Stadt im Staat New York. Es gab sicher viele Schiffe mit diesem Namen.
Trotzdem fragte er den Mietstallbesitzer:
»Ist die ALBANY ein Dreimaster, eine nicht mehr ganz taufrische Bark?«
»Ich interessiere mich mehr für Pferde und Wagen als für Schiffe. Die Masten habe ich nicht gezählt. Und was ist eine Bark?«
»Schon gut, vielen Dank«, winkte Jacob ab und verließ den großen Stall.
Er hatte es plötzlich sehr eilig, zum Hafen gekommen.
Mit klopfendem Herzen dachte er an das Schiff, das ihn von Hamburg in die Neue Welt gebracht hatte.