Der kleine Tisch, an dem er arbeitete, aß, auf dem er Zeitungen und Bücher ablegte, war an diesem Sonntag leergeräumt bis auf einige vollgetippte Seiten, einen Bleistift, einen Bleistiftspitzer in einem Behälter aus Bakelit und eine Tasse. Eine dünnwandige Tasse mit breitem goldenem Rand, elegant nach außen gewölbt, als Tee- wie als Kaffeetasse zu verwenden, auf einer Untertasse mit ebenfalls goldenem Rand. Gerhard trank aus dieser Tasse jeden Morgen seinen Kaffee. Eines von den vielleicht zehn Stücken, die er nach der Auflösung des Haushaltes in Zuffenhausen mitgenommen hatte.
Es war keine Kinderzaubertasse, auf deren leergetrunkenem Grund sich ein Vögelchen auf einem Zweig oder eine Landschaft zeigte. Seine Mutter hatte an der Tasse gehangen, und er hing auch daran. Trank er morgens daraus den Kaffee, floß Traurigkeit durch seine Adern und Nerven, nur so lange, wie die Wärme des Kaffees vorhielt, danach waren die Traurigkeit und das Behagen an ihr verflogen. Gerhard liebte diesen Zustand, der von kurzer Dauer war. Er hatte seine Tasse nötig und übernachtete auch deshalb nicht gern bei Isa, weil er dann morgens auf sie verzichten mußte. Das war lächerlich; er gebärdete sich wie ein altes Tantchen, indem er so ein Theater um ein Stück Geschirr aufführte, gleichwohl war er überzeugt davon, die Ruhe, die er für den Tag benötigte, würde ihm morgens aus dem Grund der Tasse mit dem goldenen Rand zuströmen.
An diesem Sonntag wußte er nicht wohin. Mittag war schon vorüber, er hatte ewig lang im Bett gelegen, ohne zu schlafen. Mit Richard war er für den Abend verabredet, zum Arbeiten verspürte er wenig Lust. Die Euphorie, die ihn im Gespräch mit dem Professor ergriffen und die beiden letzten Nächte wach gehalten hatte, war fürs erste verflogen. Ihn befiel seine altbekannte Sonntagslähmung, weil er nicht mehr wie in Kindertagen zur Kirche ging und kein mittägliches Festessen auf ihn wartete. Sonntags vermißte er die Geschäftigkeit seiner Mutter. Sonntags wußte er nicht, was tun. Es war schon ziemlich warm in seinen Kammern, die Wohnung begann sich sommerlich aufzuheizen. Vielleicht eine kleine Tour mit dem Fahrrad?
Münster war sonntags so verdammt leer. Isa anzurufen kam nicht in Frage. Nicht, wenn er in dieser Stimmung war, da hörte er sich kleinlaut am Telefon an, das war für ihre Freundschaft Gift. Noch schlimmer war es, wenn er eine ihrer Mitbewohnerinnen an den Apparat bekam. Gerhard mochte die beiden nicht, und sie mochten ihn nicht. Immer wurde er kurz abgefertigt, dann machte der Hörer Klack-klack-Geräusche, offenbar baumelte er achtlos an der Wand.
Die beiden schienen Isa für sich gepachtet zu haben, jedenfalls wachten sie eifersüchtig über sie. Lesbierinnen waren es nach Aussage Isas wohl nicht, aber mit Männern hatte er sie noch nie gesehen. Der letzte Freitag abend lag ihm noch regelrecht im Magen. Als er kam, war gerade eine feministische Arbeitsgruppe zu Ende gegangen, die Frauen waren fröhlich, Gelächter ertönte schon im Außenflur, ein Munterkeitssturm, in den Gerhard einige Sekunden hineinlauschte, bevor er klingelte, aber als er hereinkam, herrschte das große Verstummen; die Frauen gingen grußlos an ihm vorüber zur Tür hinaus, bis auf eine, Hede, die er aus einem kunsthistorischen Seminar kannte. Sie blieb noch im Gang stehen und plauderte unbefangen mit ihm.
Isa war an dem Abend gut gelaunt. Sie fühlte sich wieder dallowayisiert, mit allem, was da kreuchte und fleuchte, sprach, ging, stand, schlief im Münsterland, aufs Glücklichste verbunden. Glücksportionen wurden großmütig ausgegeben und hergeschenkt. Fear no more, sagte Isa. Im Moment fürchtete er sich vor gar nichts. Die beiden hockten auf ihrem großflächigen italienischen Sofa, tranken Campari mit Orangensaft und ließen einen Joint hin und her wandern. Isa wollte ganz genau wissen, was ihm in der Sprechstunde widerfahren war. Zum ersten Mal hatte Gerhard den Eindruck, daß sie ihn bewunderte. Mit übergroß gewordenen, herrlich glänzenden Augen, Hände um die angezogenen Knie geschlungen, folgte sie seiner Beschreibung, fragte haarklein nach jedem Detail, damit sie alles von dem kostbaren Gespräch wie ein Gefäß aufnehmen konnte. Dazu löste sie die Finger von den Knien und führte mit ihnen zarte Dirigierspiele auf. Gerhard liebte es, wenn sie ihn auf diese intrikate Weise lenkte und leitete, und paßte seine Sätze dem Rhythmus ihrer Finger an. Er legte den Kopf etwas zurück und nahm den letzten Zug.
Ganz genau wollte sie wissen, wie der Schreibtisch ausgesehen und was auf ihm gelegen hatte. Dazu gingen Zeige- und Mittelfinger anmutig an der Luft spazieren. Ob es muffig im Zimmer gewesen war oder kühl. Wie sie sich begrüßt hätten. Jetzt machten die Mittelfinger kreiselnde Bewegungen. Was hatte an der Wand gehangen? Lauter Fragen, für die Gerhard Antworten improvisieren mußte, die in seinem Inneren wie Bläschen auftauchten und mit einem lautlosen Kichern zerplatzten, bevor er — verhältnismäßig korrekt — darauf einging. Zwar hatte er einige Ausführungen Blumenbergs im Gedächtnis, den intensiven Blick des Professors, sein lokkeres Dasitzen im Sessel, seine generösen Gesten, auch daß er aufgestanden war, zur Schrankwand ging und aus einem Schubfach ein Suhrkamp-Bändchen über den Nemëischen Löwen holte und ihm schenkte, viel mehr aber nicht. Für Isa setzte ihn Gerhard hinter den Schreibtisch, erfand Türme von Büchern auf diesem Schreibtisch und eine kleine Schneise, aus der Blumenberg hervorguckte, listig wie eine Maus und an einem Brötchen nagend. Muffig war es im Zimmer nicht gewesen, eher frisch; auf seine Nase war Verlaß.
Und an der Wand? Isa saß inzwischen im Schneidersitz da und hielt die Hände wie flache Schalen auf den Knien.
An der Wand, tja, an der Wand — Gerhard wollte erst sagen: eine ellenlange Schrankwand und sonst nichts, aber dann war ihm das zu fade —, an der Wand hatte ein Plakat von Patinir gehangen, die Heilige Familie auf der Flucht, während einer Rast mit weißen Säckchen und einem Korb im Grünen sitzend. Dahinter eine phantastisch schöne Berglandschaft mit gewundenen Wegen, direkt ins Blaue hinauf.
Er war jetzt so überzeugt von diesem Patinir, als wäre er selbst geradewegs von einer Bergwanderung aus dem Heiligen Gebiet zurückgekehrt und hätte seiner Freundin einen ungesäuerten Fladen aus einem der Säckchen überreicht.
Es ist noch mal gutgegangen, behauptete Gerhard, der Professor hat großmütig darauf verzichtet, mich zu fressen, als er mit seinem Brötchen fertig war.
Isa lachte, sackte dann aber in sich zusammen. Sie selbst würde es niemals wagen, einfach so zu Blumenberg in die Sprechstunde zu platzen, sie würde schon an der Tür tot umfallen, jedenfalls kein Wort herausbringen, krebsrot anlaufen oder bloß stammeln. Gerhard korrigierte sie, er sei ja nicht einfach so zur Tür hereinspaziert, er habe sich vorher schriftlich angemeldet, alles weitere sei dann wie am Schnürchen gegangen. Der Professor sei weniger schwierig, als alle Welt von ihm glaube. Man müsse bloß wissen, was man von ihm wolle, und zwar möglichst präzise.
Das ist es ja, sagte Isa versonnen, wenn man nur wüßte was.
In der Gemeinschaftsküche gab es dann Abendessen. Im Nu war die Restwirkung des Joints verflogen. Salzlose, zerkochte Spaghetti schwammen in wäßriger Tomatensauce. Biggi hatte gekocht. Biggi war die Blasse, Mürrische, mit den Sorgenfalten auf der Stirn, die unentwegt schwätzte, alles, was in Münster, in Amerika und in der Bundesrepublik vorging, kleinschwätzte, dabei Isa unentwegt belehrte, immer mit einem scheelen Blick auf ihn. Philosophie hatte sich längst überlebt, philosophische Systeme waren von Männern aufgeführte Gebäude, um die Frauen geistig in Schach zu halten, überflüssig wie ein Kropf. (Biggi studierte Pädagogik.) Fakten regierten die Welt. Das unterschiedliche Lohnniveau von Männern und Frauen — ein Fakt! Daß die Mädchen im Bildungssystem zu kurz kamen — ein Fakt! Und natürlich, daß die meisten Männer Vergewaltiger waren, ob sie’s nun zugaben oder nicht. Ein Faktfakt. Dabei sah sie Gerhard kampflustig in die Augen, konzentrierte sich aber schnell wieder auf Isa, um sie vor diesem Vergewaltiger zu schützen, den im Moment allerdings der Mumm verlassen hatte, so ineinandergefaltet, wie er am Küchentisch saß. Alle ihre Sorgen schienen auf Isa ausgerichtet, und die ließ sich das unerklärlicherweise gefallen.