Es goß in Strömen.
Sie betrachtete einen ihrer Knöpfe, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen. Er war klein, weiß und hatte Zacken wie ein Zahnrädchen. Eine schwarze Linie schlängelte sich unter den Zacken einmal rundherum. Er stammte nicht aus der Fabrik ihres Vaters, da wurden solche Knöpfe nicht hergestellt. Ihr kamen die Poliertrommeln in den Sinn, die am Kopfende der Fabrik in einer Reihe standen, gefüllt mit Holzstückchen und Polierpaste, worin schimmernde Perlmuttknöpfe so lange gedreht wurden, bis sie auf Glanz gebracht waren.
Sie hatte die Knöpfe von einer alten getrödelten Bluse abgeschnitten und an ihr Kleid genäht. Vor langer Zeit hatte sie einmal im Radio ein Hörspiel aus den fünfziger Jahren gehört, da verschwanden Mädchen, und aus ihnen wurden Knöpfe gemacht. Schöne Knöpfe, einzigartige Knöpfe, mindestens so schöne Knöpfe wie der, den sie jetzt, den dünnen Stoff wie ein spitzes Berglein hochziehend, zwischen den Fingern hielt. Ob sie lauter Knopfmädchen vor dem Busen trug? Wie viele waren es? Eins, zwei, drei, vier, fünf — sechs. Sie war vielleicht auch ein Knopfmädchen, aber ihre Verwandlung stand noch bevor.
Sie ließ vom Knopf wieder ab und ging vor den Fenstern hin und her. Vielleicht sollte sie an seinem Haus vorbeifahren, nur um zu sehen, ob der Strauß noch vor dem Eingang lag.
Bestimmt nicht.
Der Alfa war gestern abend, als sie ins Kino wollte, nicht angesprungen und würde sich jetzt ebensowenig vom Fleck rühren. Vierundzwanzig weiße Lilien, gehüllt in weißes Seidenpapier, umschlungen von einem grünen Samtband mit winziger Karte, Samtband, das man zu Rokokozeiten am Kleid getragen hätte, um den Busen abzuschnüren. Im Papierwickel unten ein Tütchen Blumenfrisch, damit sie länger hielten. Sie ärgerte sich. Das Tütchen war der Gipfel der Albernheit. Wie lange hielten sich Blumen maximal, wenn man ihnen regelmäßig frisches Wasser gab und sie anschnitt? Fünf Tage, zehn Tage? Sie wußte es nicht, hatte mit Schnittblumen keine Erfahrung. Ihm war zuzutrauen, daß er Blumen haßte.
Springsteen röhrte sich nun zum dreiundzwanzigsten Mal das ausgetrocknete Flußbett hinab.
Das Kärtchen! Ob er es überhaupt gelesen hatte? Verwundert? Amüsiert? Das Ding zwischen den Fingern gedreht und was Kluges oder was Schleimiges dazu gesagt? Oder hatte seine Frau den Strauß gefunden und ihn mitsamt Kärtchen gleich in den Müll geworfen? Warum bloß war sie auf so eine Schnapsidee verfallen. Wenn er’s gelesen hatte, war’s doppelt und dreifach peinlich. Peinlich, peinlich, peinlich. Sie wollte sich jetzt nicht erinnern, was sie da geschrieben hatte. Blablabla, der typische Verliebtenstuß, weil ich nicht anders kann, als Sie mit jeder Faser meines Herzens verehren. Schwachsinn. Einen Mann mit kahler Schädeldecke und kleinem welligen Haarkranz an den Seiten verehren. Der reine Schwachsinn. Sie hatte ihn bloß gefoppt. Ihren Namen hatte sie zwar nicht preisgegeben, aber er war bestimmt draufgekommen, er hatte sie ja immer angesehen während der Vorlesung, hatte aufgeblickt, sie angesehen und in ihren Augen das große Licht entzündet. Dochdoch, das große Licht. Seither war sie gebenedeit, nein, Blödsinn, gepeinigt in seinem Namen.
(Daß es sich mit dem Blumenstrauß anders zugetragen hatte als ausgemalt und befürchtet, konnte Isa nicht wissen. Ein junger Mann war in der Dämmerung am Grünen Weg 30 vorbeigelaufen, hatte den Strauß hinter dem Gartentor liegen sehen, hatte sich unbemerkt hineingeschlichen und ihn entwendet, um ihn seiner Liebsten zu bringen, das Kärtchen natürlich abgerissen und in einen Papierkorb geworfen, wo es den üblichen Weg der Leerung, des Mülltransportes und schließlich der Verbrennung ging.)
Auf ihrer Haut überlief sie’s wirr. Er und sie lebten in einer kleinlichen Welt voller Nein. Sie würde jetzt alles auseinanderfalten, was in ihr war, Böses, Gutes, Dummes, Gescheites, Peinliches. Zeit, mit der eigenen inneren Weltauslegung zu beginnen. Peinlich, sie war peinlich. Die unwiderrufliche Wohlgelittenheit hatte sie nicht bei ihrem Gott gefunden und war dadurch peinlich geworden.
Es goß in Strömen. Sie war durchnäßt.
Scheiße! überbrüllte sie Springsteen.
Sie waren nicht zwei verzweifelte junge Leutchen, nicht Romeo und Julia aus der amerikanischen Provinz, die keinen Ausweg wußten. Peinlich, peinlich, der Gott ihrer Wahl war ein alter Mann.
Es goß in Strömen. Der Scheibenwischer arbeitete wie verrückt. Blumenberg öffnete die Wagentür.
Mit Springsteens Stimme und einem über die Schulter gehängten Täschchen wanderte Isa aus dem Zimmer, wanderte aus der Wohnung, wobei sie keine Mühe darauf verschwendete, die Tür hinter sich zuzuziehen, wanderte zu ihrem Fahrrad, das sie unverschlossen vor dem Haus abgestellt hatte, setzte sich auf den Sattel und fuhr los. Erst als sie hundert Meter oder mehr gefahren war, hörte sie Springsteens Stimme nicht mehr.
Es machte Spaß, in den leeren Straßen herumzufahren, nachmittags bei warmem Wetter. Wie dumm, daß ihr mitten in der Stadt ausgerechnet Gerhard in die Quere kommen mußte, vielleicht aber auch nicht dumm, immerhin, er hatte ein Anrecht auf ein bedeutendes Wort, das er immer behalten würde. Aber sie durfte sich nicht ablenken lassen, von ihm schon gar nicht, Gerhard war stur, der gab nicht so schnell auf, sie radelte wieder los und radelte und radelte, wobei es ein Wunder war, daß sich das lange Flatterkleid nicht in den Speichen verfing, sie kannte den Weg, den sie schon öfter mit dem Alfa gefahren war, er führte auf breiten Straßen aus der Stadt hinaus, wo der Verkehr mächtig zunahm und sie selbst, das fühlte sie deutlich, in ihrem weißen Kleid wie ein Engel, ein Blumenmädchen aus dem Nirgendwo, das nicht in solchen Verkehr gehörte, wahrgenommen wurde inmitten all der sonntäglichen Kaffeefahrer, die sie verblüfft überholten, nichts konnte, rein gar nichts konnte ihr geschehen, sie hätte auch gegen den Gegenverkehr anfahren können, sie war der lebendige Gegensatz zur Welt und auf der Flucht, auch Fliehen ist Handeln, und Blumenberg — Blumenberg hatte ihr diesen Gegensatz angesonnen, Blumenberg hatte ihr Bescheid gestoßen, er schob sie von hinten an mit seinem langen, ellenlangen Zeigefinger, den er ihr in den Rücken gebohrt hatte und mit dem er bis an ihr Herz vorgedrungen war, fahr, fahr, fahr voran, mein armes durchtränktes Seelchen, fahr, du schlägst noch mit den Flügeln und erhitzt dich im weißen Kleid, bräutlich gestimmt nach Art der Engel, nicht der Menschen.
Der Himmel hatte sein leichtgewichtiges Blau verloren und sich mit Blei bezogen. Isa schwitzte. Ihre Finger krampften sich um den Lenker.
Am Ziel angekommen, stieg sie umständlich vom Rad. Auf einer Brücke, unter der die Autos dicht an dicht durchfuhren, drei Spuren hin, drei Spuren her. Es kam jetzt auf jede noch so kleine Bewegung an, obwohl ihre Arme und Beine, bedeckt mit einem Schweißfilm, zittrig und krampfig vom langen Radfahren, nicht richtig gehorchten. Ein Schwarm Krächzvögel flog dem fernen Wald zu. Grober Spott lag in ihren Stimmen. Nicht sich beirren lassen. Die Bewegungen mußten verständig ausgeführt werden, ein Guru hatte zu Meditationszwecken das Heben und Senken der Beine, das Heben und Senken der Arme, Stehen und langsames Gehen befohlen, Ferse abrollen, auf den Zehenspitzen wippen, weiter so.
Sie hatte das Perlentäschchen in den Fahrradkorb gelegt. Ein Geschenk der Mutter. Es hatte eine besondere Bewandtnis mit diesem Täschchen. Ein Gefangener hatte Perle um Perle aufgestickt, eine leicht kitschige Geduldsarbeit, die sie immer im Schrank verwahrt hatte, weil es ihr unmöglich war, mit einem an einer Kette hängenden Perlentäschchen, so einem niedlichen, süßen Ding, das dauergewellte Frauen abends ins Theater oder in die Oper mitnahmen, mit so einem Ding in Münster herumzulaufen. Weil ein Gefangener, sogar ein Lebenslänglicher, es gemacht hatte, hielt sie es trotzdem in Ehren.