Als er sich 1997, ein knappes Jahr nach dem Tod seines Lehrers — inzwischen neununddreißig Jahre alt und glanzvoll habilitiert —, an der ETH Zürich im Fachbereich Philosophie um eine Professorenstelle bewarb und dabei so mitreißend vorsang, daß er als Prachtpferd aus dem Rennen ging, knickte er direkt nach dem Vortrag, der zu weiten Teilen seinem alten Lieblingshelden Samson gegolten hatte, Vortrag, zu dem ihn die ansonsten eher reservierten Schweizer überschwenglich beglückwünschten, noch auf dem Flur der ETH ein, fiel zu Boden und starb wenige Stunden später im Universitätsspital an den Folgen eines Hirnschlags. Baur hinterließ eine Frau, eine Tochter von sechs Jahren, einen anderthalbjährigen Sohn und einen kreuzfidelen, noch nicht ganz stubenreinen Terrier, den er seinen Kindern zu Weihnachten geschenkt hatte.
Jetzt aber Schluß mit den Todesnachrichten. Nun wollen wir den Erzähler dahin zurückscheuchen, woher er gekommen.
Ägypten
Von seinem anstrengenden Sonntagsausflug war er wieder nach Altenberge zurückgekehrt. Der zerwühlte Sturmhimmel hatte sich beruhigt, der Regen aufgehört, aber so viel Wasser war vom Himmel gestürzt, daß die Bäume schwer von Nässe in der Dunkelheit standen, als schwarze Massen, von denen es unaufhörlich tropfte und zu deren Füßen es gluckerte. Auf dem Weg zum Haus hatten sich große Pfützen gebildet, denen schwer auszuweichen war. Er schwor sich, dies würde der letzte Ausflug solcher Art gewesen sein, zog die nassen Schuhe aus, wusch sich die Hände und schwemmte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er war nicht in Stimmung für ein Nachtmahl, er war nicht in Stimmung zu reden. Er wollte trocken werden und sich wiederfinden.
Der Beruhigung dienlich war ein sandfarbener Kaschmirpullover, den er gewöhnlich im Arbeitszimmer trug, bequem geschnitten wie ein Sporthemd mit Kragen. Er besaß mehrere davon in unterschiedlichen Farben. Als er, gewärmt von der vertrauten häuslichen Wolle, im Musikzimmer auf dem Sofa lag, kamen seine Gedanken allmählich in ruhigeres Fahrwasser.
Gottlob umhüllte ihn wieder die Nacht. In seltener Intensität spürte Blumenberg den Schutz der Nacht. Sie entdüsterte ihn und entpflichtete ihn von der Geselligkeit, ersparte ihm törichte Überraschungen und lockerte seine geistige Apparatur. Mit feinen besonnenen Fingern hatte er eine Platte aus der Hülle gezogen, sie mit einem Läppchen überwischt und auf das Gerät gelegt. Blumenberg liebte den Moment, da sich der Tonarm senkte und die Nadel sanft auf eine Rille traf. Es knackte. Rasch hatte er zum Sofa gefunden, um schon die ersten Töne im Liegen zu hören. Einer seiner Lieblinge spielte. Arturo Benedetti Michelangeli spielte Schuberts Sonate, als würde er jeden Finger für den Bruchteil einer Sekunde hochstellen, nachdem er die Taste berührt hatte — als Mahnzeichen für den Hörer, doch bitte genau in den Ton hineinzuhorchen, während er schon am Verklingen war; selbst wenn die Musik ins Murmeln geriet, in einen sumpfigen Grund, selbst wenn sie in Kaskaden auf- und abklingelte, wenn sie ihre Perlenkränze wand und ein bißchen herumtändelte, waren die einzelnen Töne noch klar herauszuhören, besonders die hellen, die der Pianist manchmal fast bis an die Schmerzgrenze hochspitzte. Blumenberg hielt die Augen geschlossen. Das Zucken in Benedetti Michelangelis Mönchsgesicht war wieder präsent, das er einmal in einer Aufzeichnung gesehen hatte, auch dessen Äußerung, jeder wirkliche Ton sei noch unendlich weit vom möglichen entfernt, und es tue weh, mit dem Mangel auskommen zu müssen. Diese Art des Spiels war nichts für romantische Schwelger, deren Herzen sich danach sehnten, im Brausesturm davongetragen zu werden; Benedetti Michelangeli spielte für Leute wie ihn, die ihre geheime Lust an der Analyse hatten, am strukturellen Geäst der Musik, an der Präzision ihrer Wiedergabe, Leute, die hinter dem dienenden Genauigkeitseifer des Musikers die feinen Gefühlsvaleurs lieber selbst herauswitterten, als Herzbefehle vom Pianisten zu empfangen und sich von ihnen überrennen zu lassen.
Ob der Löwe wieder im Arbeitszimmer auf dem Teppich lag, kümmerte ihn nicht. Selbst an etwas so Außerordentliches wie einen Löwen gewöhnt man sich, dachte er zufrieden und genoß dabei, wie der Pianist ihn mit seinen scharfen hohen Einsätzen immer wieder aus den Gedankenwogen riß.
Natürlich war das Auftauchen des Löwen ein Wunder. Blumenberg lag es fern, Wunder zu belächeln, sich über sie lustig zu machen; im Gegenteil, die Zeige- und Bestätigungskraft der Wunder, die sich zur Zeit der Abfassung der beiden Testamente ereignet hatten und auch noch in der Zeit des Urchristentums, beeindruckten ihn in ihrer Intensität und Verweiskraft, auch wenn er sich nicht dazu bringen konnte, an sie zu glauben. Aber der Löwe verkörperte das Wunder. Obendrein war sein Vorhandensein in Isenhagen von einer Zeugin bestätigt worden, die über jeden Zweifel erhaben war. Sobald sich auch nur das Ärmchen eines Zweifels regte und der heutigen Begegnung etwas zuleide tun wollte, zeigte sich der Imponierkopf der kleinen Mehliss und sah ihn aus kohlschwarzen Augen an. Verdammt noch mal, was wollte er noch? Glaubte er nun an das Wunder oder nicht? Vor allem: glaubte er an die Beweiskraft des ihm widerfahrenen Wunders, das ihn — Blumenberg, Sohn einer Jüdin, einen katholisch getauften Agnostiker, der in der Zeit der Not, als keine Universität ihn aufnahm, einige Semester am Frankfurter Jesuitenkolleg, das nach Limburg ausgelagert worden war, hatte studieren dürfen und nie aus der Kirche ausgetreten war — mit Macht an die beiden Testamente band, nein: fesselte? Der sein Anliegen, das Gottesbild beider Testamente nicht auseinanderbrechen zu lassen, in immer neuen Anläufen zu Papier brachte?
März 39. Wolfangers Gesicht, von Abscheu verzerrt. Der Direktor des Katharineums, der ihm auf offener Bühne den Handschlag verweigert hatte, ihm, dem besten Schüler von ganz Schleswig-Holstein.
Blumenberg löste sich mit einem Ruck vom Sofa und drehte die Platte um. So wenig er sich von der Macht der Musik überwältigen lassen wollte, so wenig war er bereit, sich der Macht des Wunders zu ergeben. Auch nicht, sich von der Vergangenheit auffressen zu lassen.
Die Überrumpelung durch das Wunder lehnte er ab, mit einer zarten Anmeldung des Wunderbaren hätte er sich vielleicht arrangieren können. Wozu hatte er ein sublimes Geistgehäus um sich herum aufgebaut und sich darin eingesponnen, wozu war ihm ein scharfer Verstand verliehen worden und ein grundlegendes Mißtrauen gegen Erregungszustände, die den Menschen in die Irre führten, wozu besaß er ein überragendes Gedächtnis — alles nur, um wie ein Kind die Hände zu falten und mit glänzenden Augen seinen Löwen anzugucken?
Ihm kam der Freund in den Sinn, dessen Trudeln auf das Ende zu von Verlassenheit zeugte, obwohl er von seiner Frau gewissenhaft umsorgt wurde. Wenn nichts blieb als der Leib und keine Rettung den endlichen Menschen in der hohlen Hand barg, führte der Leib ein schreckliches Theater auf und langte mit Gier nach jedem verbliebenen Lebensfetzen. Wie triumphal, wie anders war es zugegangen, als sie beide im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen waren und die große Reise gewagt hatten, drei strahlende Monate lang, die sie 1956, zusammen mit ihren Frauen, in Ägypten verbracht hatten. Blumenberg sah den großen Mercedes des Freundes an Seilen in der Luft schweben. Von einem Kran gehoben, war er in Antwerpen, dieser vom Krieg schwer heimgesuchten Stadt, auf die Arethusa verfrachtet worden. Von da aus war es nach Genua gegangen, dann wurden sie mit Mann und Maus, mit dem nachtblauen Mercedes und einer stattlichen Anzahl Koffer auf ein anderes Frachtschiff verladen und langten schließlich in Alexandria an.
Schon auf der ersten Etappe, auf dem Atlantik entlang der Küsten Frankreichs und Spaniens, war er erleichtert gewesen wie selten zuvor. Er wurde nicht müde, aufs Wasser zu starren, Vögel zu beobachten, die das Schiff begleiteten. Noch nie hatte er sich länger auf dem Meer befunden, obwohl er sich im Wasser immer wohl gefühlt hatte. Als Junge war er ein großer Taucher gewesen, der es viel länger unter Wasser aushielt als seine Kameraden; manchmal glaubten sie schon, er sei ertrunken, bis er als Wasserblitz, nach Luft schnappend, vor ihrem erregten Grüppchen wieder aufschoß und sein Freund Ulrich ausrief: Was, du lebst noch!