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Wie Maria Aegyptiaca sich zu fühlen war ihm unmöglich. Es fehlte die Wüste, es fehlten die Ausschweifungen und Gelage, denen sich diese sehr spezielle Maria früher hingegeben hatte, und natürlich die Umkehr. Blumenberg hatte sich solchen Leibextremismen nie hingegeben, er hatte nicht umkehren müssen, und er war keine Frau. Auch war ihm die Vorstellung unsympathisch, mit ausgedörrten Gebeinen in der Wüste zu liegen, über sich einen Löwen als Grabwächter.

Agaue? Unsinn! Den eigenen Sohn als Löwen mißkennen und ihn zerreißen im bacchantischen Wahn, zu so etwas konnte sich nur eine im wilden Griechenland aufgekommene Frau hinreißen lassen, präziser: die Zuspitzung der Frau: die antike Mutter.

Obwohl der Löwe da vor ihm keineswegs träumte und sein breitnasiges Haupt zweifellos echt war und nicht etwa heimlich der Kopf einer Katze (auch schaute dieser Löwe immer weiter durch ihn hindurch), so bemächtigte sich des Philosophen doch allmählich ein friedliches Gehäusgefühl. Er rief sich den berühmten Kupferstich von Dürer ins Gedächtnis. Zwar fehlte in seiner, Blumenbergs, Klause das Stundenglas, durch das der Sand rann, es fehlte das Pult, es fehlten die Butzenscheiben und der Totenschädel auf dem Fensterbrett, und anstelle der Täfelung aus warmem Holz gab es bis an die Decke reichende Bücherregale und Teppiche, aber eine Klause in stupender Abgeschiedenheit von den übrigen Teilen des Hauses war es doch. Außerdem herrschte Nacht. Die Stunden der radikalen Abkehr vom weltlichen Getriebe, in denen sich höchstens einige Schlaflose herumwälzten und nur sehr wenige Menschen ihre Dienste versahen.

Trotzdem kamen Blumenberg Zweifel. Wenn er jetzt ganz fest die Augen schloß und auf sechzig zählte — er hatte sich angewöhnt, solches Abzählen durch ein winziges Aufzucken der Finger zu bewerkstelligen — und dann die Augen wieder öffnete, war der Löwe womöglich verschwunden. Ein Trugbild, weiter nichts.

Blumenberg schloß tatsächlich die Augen, zählte aber in der Verwirrung nicht bis sechzig, sondern versehentlich nur bis achtundfünfzig, wobei es ihn hart ankam, die Augen so lange zuzupressen.

Augen auf. Der Löwe war da.

Blumenberg bekam Lust, seinen Platz hinter dem Schreibtisch einmal zu verlassen. Draußen leuchtete der Mond. Vor den langgestreckten Fenstern zeigten sich die schwarzen Gerippe der Rosenstöcke. Vielleicht sollte er einen Fensterflügel öffnen und auf diese Weise mit allem ins Freie kommen.

Ob trotz augenscheinlicher Gutartigkeit der Löwe ihm etwas antun könnte, ob es gefährlich war, ihm den Rücken zuzudrehen? überlegte Blumenberg, als er fast in Zeitlupe vom Stuhl sich erhob, seinen Schreibtisch halb umrundete und langsam, viel langsamer als gewöhnlich, zum Fenster ging.

Gefährlich? Nein, wohl nicht. Einige Sekunden stand Blumenberg am Fenster und sog die kühle Nachtluft ein, allerdings mit angespanntem Rücken. Als er sich wieder herumdrehte, war der Löwe immer noch da.

Zeit, eine Flasche Bordeaux zu öffnen. Das Ereignis mußte gefeiert, auf das Erscheinen des Löwen Wein getrunken werden. Mit dem gefüllten Glas blieb Blumenberg allein, in seinem Arbeitszimmer hätte er vergeblich nach einem Gastglas gesucht. So hauspossierlich war der Löwe nun wieder nicht, daß er ein Glas in der Pfote hätte halten können, um es auf Blumenbergs Wohl zu lüpfen.

Der Löwe, der, wie ihm schien, den Kopf inzwischen ein klein wenig gesenkter hielt, aber immer noch ungerührt durch ihn hindurchblickte, belegte sechzehn, siebzehn, oder waren es neunzehn? Elefantentapfen auf dem Bucharateppich, der als eines der wenigen Besitzstücke aus dem Erbe des Vaters auf ihn gekommen war. Indem sich der Löwe diese wärmende Unterlage für sein Liegen ausgesucht hatte, betrug er sich wie ein Haushund. Er hat Sinn für Symmetrie, dachte Blumenberg, weil sich der Löwe ziemlich exakt in die Mitte gelegt hatte, obendrein scheint er Sinn für Ästhetik zu besitzen. Der Teppich war das kostbarste Objekt in Blumenbergs Arbeitszimmer, mit hellen Tapfen inmitten von Weinrot und blaugrünschwarzen Farbabstufungen — wirklich ein exquisites Stück.

Obwohl es an seinem Arbeitszimmer nichts auszusetzen gab, bedauerte sich Blumenberg, daß er keinen so glorreichen Raum zur Verfügung hatte, wie ihn Antonello da Messina gemalt hatte. Das Bild, vom italienischen Meister starkschattig nach Art der Niederländer angelegt, führte Blumenbergs Gedächtnis, das jetzt wieder tadellos funktionierte, mit fabelhafter Präzision heran: der Blick fällt durch eine steinerne Öffnung, auf der Brüstung ein Pfau, eine Kupferschüssel, eine Wachtel. Im prächtigen Innenraum ein Treppchen, eine, zwei, drei Dreifaltigkeitsstufen empor auf eine Bühne. Der heilige Gelehrte im fließenden roten Samtgewand und roter Samtmütze, mit langen Armen in einem Buch blätternd, das auf einer Art Sitzpult mit abgeschrägter Fläche vor ihm aufgeschlagen liegt. Links ein zauberischer Fensterausblick. Eine Hügellandschaft mit vereinzelten Zypressen. Und rechts, hinter der Bühne des Gelehrten, aus dem Dunkel auftauchend, ein spilleriger Löwe. Nein, nicht mit Löwenbeinen und breiten Tatzen, sondern mit dünnen Rennbeinchen versehen wie ein Windhund. Wahrscheinlich hatte Antonello nie einen Löwen zu Gesicht bekommen.

Blumenberg liebte das Bild. Diese würdigen, einsamen Figuren, die mit wenigen Büchern auskamen, weil sie offenbar die immerselben, allen voran natürlich die Bibel, wieder und wieder studierten; ihre opulent ausstaffierten Zimmer mit den Schmuckblicken in ein wohlgeordnetes Draußen, die Einsamkeit ins glorios Behagliche rückend! Das bühnenhafte Arrangement, die Erhöhung der Schauseite, diente dazu, den Gelehrten vom Fliesenboden, diesem kunstvoll verwirtschafteten Boden, zu lösen, als sei er von der Schwerkraft minder abhängig, als sei sein Boden nicht gemeiner Lebensboden, sondern Geistboden, über dem sich die Gedanken weit und weiter emporrafften. Sollte in seinem roten Gewand die Herzenserhebung des gelehrten Eremiten angezeigt worden sein? Nicht mitgemalt war natürlich der Durchzug, der zwischen der großen Öffnung vorne und den Fensterhöhlungen hinten im Mittagsglast hätte herrschen und die herumliegenden Papiere ins Segeln und Trudeln bringen müssen. Den lustigen Löwen stellte sich Blumenberg für einen Moment als Papierjäger, Papierschnapper vor, brach die Sätze, die sich in ihm dazu formen wollten, aber gleich wieder ab, weil er sich nicht im Albernen verlieren wollte.

Zurück zum eigenen Löwen. Trotz dessen denkwürdigen Erscheinens, das sich vor einer halben Stunde erst zugetragen hatte, hielt Blumenberg es für angezeigt, auf keinen Fall, nicht einmal in diesem Extremfall, da ihm das Herz noch immer bis zum Halse schlug, auf seine Gewohnheiten zu verzichten. Immerhin hatte ihn der Löwe so durcheinandergebracht, daß er seiner Sekretärin nicht das übliche Quantum hatte diktieren können; das genügte als Abweichung von der Regel. Er packte die eine vollgesprochene Kassette in einen Umschlag, ließ sich — Löwe hin, Löwe her — nicht darin beirren, gut lesbar, wenn auch ein klein wenig zittrig, die Adresse der Universität darauf zu schreiben, ihn mit einer Marke zu versehen, griff nach seinem Mantel und ging, mit einem verhaftenden Blick auf das Tier, als wolle er es auf dem Teppich festnageln, zur Gartentür hinaus.

Draußen zündete er sich eine Zigarette an: auch gegen die Regel, denn für gewöhnlich legte er den Weg zum Briefkasten und wieder nach dem Haus im Sturmschritt zurück, Rauchen hätte da nur Zeit gekostet. Diesmal ging er zwar aufgeregt durch die spärlich erleuchteten Straßen — wie üblich war um diese Zeit kein Mensch unterwegs, selbst die geparkten Wagen unter den Lichtglocken der Laternen schienen zu schlafen —, ging aber doch langsamer als sonst, um an der Nachtluft noch einmal in Ruhe zu überprüfen, was ihm in der letzten Stunde widerfahren war.